DIE BLAUE STUNDE NACH DER HOCHZEIT
: Umtoste Insel

VON RENÉ HAMANN

Das Leben ist kein italienischer Spielfilm aus den frühen Sechzigerjahren. Wäre es so, wären wir jetzt an den Strand gefahren, in dieser blauen Stunde, nach der Hochzeit und vor dem Brautpaar. Hätten uns in den roten Sportwagen gesetzt, irgendjemand hätte noch fahren können oder auch nicht, dann wären wir zum großen Boulevard gefahren, der nicht im geringsten Ähnlichkeit mit der Oranienstraße, der Oranienburger Straße oder dem Ku’damm hätte, hätten dann vor dem Lieblingsitaliener ein paar Partyleute eingeladen und wären losgedüst, um bei Sonnenaufgang pünktlich am Meer zu stehen.

Das Leben ist aber kein Film, was natürlich gegen das Leben spricht und nicht gegen den Film. Die Kunst ist dem Leben weit voraus, das zeigt sich nicht zuletzt an diesem kleinen Beispiel. Im Leben hangeln sich alle an ihren kleinen Sicherheiten durch ihren Alltag, und selten passiert einmal etwas, Katastrophen, Wendepunkte, Einsichten, Tragödien. Steht man auf einer Hochzeit, sieht man Frauen in schicken Kleidern, an deren Rändern Tätowierungen hervorschauen. Aber es ändert nichts, man steht immer noch auf einer Hochzeit. Und niemand fällt auf die Torte, keine lüsternen Cousins und Cousinen fallen in der Restaurantküche übereinander her, und niemand entführt die Braut in einem Linienbus. Die Musik war gut, aber eigentlich hätte man konsequenterweise Schlager spielen sollen.

Indie-Ballermann

Andererseits: Eine Hochzeit in Berlin, besonders eine Hochzeit in Friedrichshain, ist wie ein Tropfen Joghurt in scharfer Soße. Eine von Juvenilität, Spaß, Aufruhr, Naivität und Stumpfsinn umtoste Insel der Bürgerlichkeit. Statt des roten Sportwagens wartete nicht einmal ein Taxi vor der Tür – wir stapften zu Fuß durch die blaue Stunde, durch die Partygesellschaft, den Indie-Ballermann, den F’hain inzwischen darstellt, mit Kontrabass und Schallplatten über die Warschauer Brücke bis zur U1. In verschwitzten Stoffhosen und salzverkrusteten Hemden.

Surfen durch Kulturen: Am Freitagabend war ich noch in Rudow gewesen, eine Buchhandlung und die Neuköllner Lesewochen hatten zu einer Lesung geladen. In Rudow herrschte große Langsamkeit. Das Auge konnte ausruhen, es gab kaum Menschen, es war still, es ging so entschleunigt zu in Rudow, das sich im Vergleich zu 2006, als ich das letzte Mal hier war, nicht groß geändert hatte. Die Lesung fand leider nicht in der Eisdiele statt, also da, wo die meisten Menschen saßen. Trotzdem war es ein angenehmer Abend, fast wie Urlaub auf dem Land, mitten in Berlin.

Ansonsten wurde das Wochenende von kulinarischen Träumen beherrscht. Von heißen Himbeeren in Vanillesoße oder Himbeereis mit Vanillesoße oder sonst etwas, wo Himbeeren und Vanille beteiligt sind. Manchmal auch Mango. Ich nahm das schwere Buch mit, erst ins Café, das wegen Sommerfeier bereits um vier Uhr schloss, dann an den Kanal, kam aber vor lauter Himbeerträumen und Menschengucken gar nicht zum Lesen. Die Menschen, fiel mir auf, waren längst nicht so schön, wie man sie sich im Winter immer vorgestellt hatte. Was nicht nur an den Tätowierungen lag. Eine Frau kam mit einem verhangenen Kinderwagen, und wir stellten uns ein neues Krankheitsbild vor, die eingebildete Mutter. Die mit verhangenen Kinderwagen herumläuft, aber gar kein Kind hat. Höchstens eine Puppe. Vermutlich gibt es das Krankheitsbild schon, so wie bei dem zweijährigen Nikotinisten neulich, wir haben nur die betreffende Talkshow nicht gesehen.

Das Leben ist also kein Film, manchmal aber eine Talkshow. Wie dem auch sei. Es ist Sommer. Und das ist die beste Jahreszeit der Welt. Feiern wir sie.