Am Ende der Nahrungskette

„Unglaublich, was die Leute wegschmeißen würden, wenn es uns nicht gäbe“

AUS DORMAGEN LUTZ DEBUS

Spargelcremesuppe und Sahnesoße für Geschnetzeltes: Vor dem kleinen Ladenlokal stapeln sich Kartons mit Instantprodukten. Hinter den Schaufenstern winden sich mannshoch Yukapalmen. Aus dem VW-Bus, Baujahr 1986, lädt Dieter Göckeritz Pappkisten aus. Dann wischt er sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Seit seiner Pensionierung engagiert sich der Justizbeamte bei der Dormagener Tafel.

Seine Tour begann um 6 Uhr. Erst war er bei einem Bäcker und holte 100 Brote vom Vortag. Dann klapperte er mehrere Supermärkte ab: Obst, Gemüse, Fleisch, Molkereiprodukte. Die Altware muss mittags aus dem Lager sein, bevor die Sattelschlepper mit den neuen Lieferungen kommen. Eigentlich standen die Suppen und Soßen nicht auf dem Dienstplan von Dieter Göckeritz. Doch der Hersteller wollte sich kurzfristig von seinen Produkten trennen. Mit dem frühen Verfallsdatum hätte der Einzelhandel die Tüten nicht mehr genommen. Und wenn der Wagen wieder leer ist, fährt der Pensionär zu einem Bauernhof. Dort warten 160 Kilogramm Kartoffeln. Zu klein, zu groß, zu unförmig sind die Knollen für die strengen EU-Normen. Nicht für den Verkauf geeignet.

Dieter Göckeritz schüttelt den Kopf. „Unglaublich, was die Leute wegschmeißen würden, wenn es uns nicht gäbe.“ An jedem Sonntagnachmittag holt er die Reste des Brunchbuffets eines Ausflugslokals. Kalbsmedaillons, Antipasti, auch schon mal Lachs und Krabben. „Der Reichtum dieser Gesellschaft lässt sich an dem, was dieser Lieferwagen transportiert, ablesen.“

Im Laden sitzen an einem Metalltisch drei Frauen. Mit flinken Händen packt die erste Frau Erdbeeren aus. Die Plastikschälchen und Folien landen in einem Eimer unter dem Tisch. Die zweite Frau trennt die schimmligen, faulen und matschigen Früchte von den genießbaren. Neben ihr steht ein Eimer mit Obstabfällen. Die dritte Frau packt die verbleibenden Erdbeeren in Papiertüten. Eintönige Fließbandarbeit. Aber die Frauen scherzen, lachen.

Eine der Frauen ist Katharina Titzer. Nachdem sie 80 etwa gleichgroße Portionen Erdbeeren verpackt hat, macht sie eine kleine Pause. Mit den gleichen flinken Fingern, mit denen sie zuvor das Obst sortierte, holt sie sich eine selbst gestopfte Zigarette aus dem Plastiketui. Vor einem Jahr, erzählt die Frau mit dem hochgesteckten rötlichen Haar, war sie selbst eine der ersten Kundinnen der Dormagener Tafel. Doch die 51-jährige wollte keine Almosen, wollte auch etwas für die erhaltenen Lebensmittel geben. Aber außer ihrer Arbeitskraft hatte sie nichts anzubieten.

Ihre Probleme begannen in den 80er Jahren: Ihr Mann, selbständiger Versicherungskaufmann, erkrankte an Rheuma. Die Ärzte prophezeiten, dass er binnen weniger Jahre im Rollstuhl sitzen werde. Durch eine aufwändige Diät besserte sich sein Zustand. Aber das Geschäft konnte er nicht weiter führen. Einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Rente hatte der chronisch kranke Selbständige nicht. Katharina Titzer arbeitete zu der Zeit im Büro einer großen Spedition. Spezialgebiet Schadensabwicklung. Damit ihr Lohn auch für Mann und Tochter reicht, stellte sie sich am Wochenende zudem mit einem Stand auf Flohmärkte, verkaufte handgenähte Puppen und selbst modellierte Clowns. Der Mann malte Ölbilder dazu. Doch plötzlich, im Jahr 2000, verlagerte die Spedition ihren Firmensitz ins Ausland. Der Bürokraft wurde nach 15 Jahren Betriebszugehörigkeit gekündigt.

Die ersten Jahre kamen die Eheleute auch mit der Arbeitslosenhilfe knapp über die Runden. Aber seit einem Jahr ALG II reicht es hinten und vorne nicht mehr. So ist Katharina Titzer dankbar, zwei Mal in der Woche für einen Euro im Laden der Dormagener Tafel einkaufen zu können. Dafür schneidet sie schon Mal an einem Vormittag so lange an welken Kohlköpfen rum, bis sie wieder frisch aussehen.

Wenn Katharina Titzer von den Behörden erzählt, macht sie zwischen den Sätzen kleine Pausen. Dann presst sie ihre Lippen zusammen, bis sie zittern. Mehrmals habe man ihr vorgeworfen, nicht intensiv genug nach Arbeit zu suchen. Katharina Titzer bläst eine blaue Rauchwolke in den Pausenraum: „Auf dem Amt wird man würdelos behandelt. Vielleicht ist mir deshalb die Tafel so wichtig. Weil ich hier gebraucht werde.“

Inzwischen sind die Waren auf Regale und Kühltruhen verteilt. Vor dem Laden wartet eine Traube von Menschen. Von den 60.000 Einwohnern der Stadt versorgt die Dormagener Tafel 400. Nur wer nachweisen kann, dass das Einkommen in der Nähe des Sozialhilfeniveaus liegt, kriegt einen entsprechenden Ausweis der Tafel ausgestellt. Hilfsbedürftige bekommen damit am Montag- und Donnerstagnachmittag Grundnahrungsmittel – zu einem symbolischen Preis: Mit einem Euro gehen die Menschen einkaufen, nicht betteln. Der Euro, sagt Katharina Titzer, habe auch ihr den Weg zur Tafel erleichtert.

Ohne Gedränge betreten die Kunden das Geschäft. Ein Sprachengewirr erfüllt den Verkaufsraum. Katharina Titzer hat Spaß daran, den Kindern aus Sri Lanka ganz direkt ein paar Vokabeln beibringen zu können: „Pa-pri-ka!“ Ein Mädchen wiederholt: „Pa-pri-ka!“ Dann steckt sie die grüne Schote in den Mund. „Gerade zu Monatsende, bevor die Sozialhilfe ausgezahlt wird, kommen Menschen zu uns, denen man den Hunger ansieht.“

Katharina Titzer hat durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit erfahren, dass sie nicht allein dasteht mit ihrer Not, dass es Menschen gibt, denen es noch sehr viel schlechter geht. Mancher Kunde könne noch nicht einmal den einen Euro aufbringen. Aber in Notfällen kann man bei der Dormagener Tafel anschreiben lassen. Vor Weihnachten habe man einer jungen Frau außerhalb der Öffnungszeiten das Nötigste mitgegeben. „Die wäre mit ihren vielen kleinen Kindern nicht gut über die Feiertage gekommen“, vermutet Katharina Titzer.

Dieter Göckeritz ist mit den Kartoffeln angekommen. Auf dem Weg ist er bei einem Tierfutterdiscounter vorbeigefahren. Gibt es auch Tiernahrung bei der Tafel? „Natürlich“, erwidert er leicht mürrisch: „Je weniger Geld die Leute haben, um so mehr Hunde und Handys müssen her.“ Aber der Verein wolle die Leute ja nicht erziehen, nur helfen.

Dieter Göckeritz ist auch aktiv in der Dormagener CDU. Andere im Vorstand der Tafel sind Sozialdemokraten oder Grüne. Der Verein wird von einer ganz großen Koalition regiert. Trotz seiner Parteizugehörigkeit ist Göckeritz mit den Roten und Grünen aus dem Vorstand einig: Das Thema Kinderarmut wurde bisher von jeder Regierung ignoriert. Aber wieder hat er Trost parat: „Manchmal haben wir Schokoladenfiguren für die Kleinen.“