Alltag in Geranienrot

FOTO Zoltán Jókay begegnete als Demenzbetreuer alten Menschen, die in Armut leben. Das Sprengel Museum in Hannover zeigt nun seine sozialdokumentarischen Fotoporträts

Das Fotografieren von Kranken ist ein ethischer Balanceakt. Zoltán Jókay sagt, dass sie es wollten

VON BEATE BARREIN

Die 64 Arbeiten von Zoltán Jókay hängen wie in einer Ahnengalerie, in respektvollem Abstand zueinander. Es sind fotografische Porträts von Menschen, die an Demenz erkrankt sind. Sie leben in einem einkommensschwachen Viertel Münchens, entweder noch in ihrer Wohnung oder bereits im Altenheim. Jókay war zunächst Quartiers-, dann Demenzbetreuer. Das sind mit geringen Mitteln finanzierte Betreuungskräfte. Er leistete den Menschen Gesellschaft und bat sie schließlich um Fotos. „Und zwar in meiner Freizeit. Es war ein Tausch von meiner Zeit gegen ihre Bereitschaft, sich fotografieren zu lassen“, erzählt Jókay. Der 53-Jährige wurde für das Portfolio seiner Serie mit einem hochrangigen internationalen Fotopreis ausgezeichnet. Jedem etwa DIN-A4-großen Porträt ist eine farblich abgestimmte, gleichgroße Tafel an die Seite gegeben mit einem kurzen Text. „Damit wollte ich die Fotos stärker in der Wirklichkeit verankern, denn Fotos sind nur scheinbar wirklich“, sagt Jókay.

Frau Mann – der Name ist wie alle anderen fiktiv – in ihrem blauen Poloshirt sitzt aufrecht in einer klassischen Porträtposition, wie ein Monolith. Jókay hat ihr die Fotos gezeigt. Sie war die Einzige, die so über ihr Abbild erschrocken war, dass sie nicht mehr fotografiert werden wollte. „Manche fanden sich entsetzlich alt. Manche waren da tolerant“, sagt der Fotograf, dem solche Reaktionen vertraut sind. Entgegen den eher flüchtigen Begegnungen mit den Protagonisten seiner früheren Porträtserien wie „sich erinnern“ (1987–1993) oder „erwachsen werden“ (2000–2003) habe er diese Menschen alle gekannt. Dieses Projekt hat ihn verändert. Nun spüre er, wie er sich den Menschen zuwende: „Ihr Leben hat mich beschäftigt, weil ich denke, dass wir eine gemeinsame Existenz teilen. Mich betrifft auch das, was anderen Menschen zugestoßen ist und ihnen zustößt.“ Da ist etwa eine ehemalige Schauspielerin, die sich extra geschminkt hat und sich nur mit Kopftuch fotografieren lässt. Ganz in Lachsrosa und Geranienrot. Sie sagte immer, sie habe kein einziges graues Haar und dabei „war es stockgrau“, erzählt Jókay. Er hat viele Geschichten gehört. Jókay: „Nicht alle waren wahr. Aber diese Menschen leiden daran, so zu leben. Arm zu sein, sich manchmal nicht einmal eine Busfahrkarte kaufen zu können. Es ist nicht ihre Schuld, dass es so gekommen ist. Da gibt es viele Faktoren.“ Auch Frau Schauseil hatte ein bewegtes Leben. Mit ihr saß Jókay oft auf dem Balkon. Dort fotografiert er sie in ihrem rosé-beige-farbenen Spitzennachthemd. Das trug sie meistens. Im Gegenlicht. „Normalerweise werden junge Frauen so fotografiert, was ich sehr langweilig finde. Ich spiegele das auf eine reale Ebene zurück.“

Zeit in kleinen Portionen

Mit der Einführung der Demenzbetreuer wurde die Zeit der Pflegefachkräfte für Gespräche quasi outgesourct. „Jeder hat Anspruch auf zehn Minuten am Tag. Aber nur die Dementen. Unter diesem System leiden Bewohner wie Mitarbeiter“, sagt Jókay. Der rationierte Alltag in diesem Altenheim, das vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen immer mit Bestnote bewertet wird, schreckt ihn ab, doch so verdient er seinen Lebensunterhalt. Und dann überwältigen ihn die Intimität, das Berührt-werden-Wollen und das Lachen mit den Bewohnern. „Ich wollte die alten Menschen mit meinen Fotos nicht zum zweiten Mal zum Opfer machen. Die Menschen, die ich fotografiere, sind unser Gegenüber. Sie sind wie wir.“ Die Gesellschaft müsse sich daran messen lassen, wie sie mit ihren Alten umgeht.

Mit jeweils einem fein abgestimmten Farbton bleiben seine Arbeiten nahezu monochrom. Die Texttafeln greifen diese Tonalität auf. Für Kuratorin Inka Schube kann die Textaussage „der Startpunkt für den inneren Film des Betrachters sein, für die Geschichten, die die Fotografien erzählen. Für mich sind die Texttafeln so etwas wie aufgelöste Erinnerungen, wo es kein Bild mehr gibt.“ Der Münchner ist nun schon zum zweiten Mal im Sprengel Museum zu Gast. „Wenn wir Fotografen wie Zoltán Jókay zeigen, hat das mit der Tradition zu tun, die hier im Haus gepflegt wird“, so Schube. Es gehe um Fotografie im sogenannten dokumentarischen Stil. Das heiße, mit dokumentarischen Methoden zu arbeiten und eine Ebene in der Schwebe zwischen Dokumentarismus und Poesie zu erreichen.

Das Fotografieren von Kranken ist ein ethischer Balanceakt. Jókay sagt, dass sie es wollten: „Wenn man fotografiert wird, wird man für würdig gehalten.“ Kuratorin Schube argumentiert mit Blick auf das Gesamtbild der Serie: „Nicht der Akt der Fotografie ist hier relevant, sondern das, was davon schließlich in den Ausstellungsraum kommt. Durch das, was herausgefiltert wurde, entsteht eine neue Ebene. Sie stellt wieder Distanz her und damit Schutz. Zoltán Jókays Arbeiten haben nichts Voyeuristisches.“ Jókay mag Hochzeitsfotos. Bei jedem „seiner“ alten Menschen hängt eines. Er fotografiert es unscharf, denn einer von beiden ist meist schon verstorben. Auch von seinen Modellen lebt inzwischen keines mehr. Das Projekt ist abgeschlossen. Demente betreut Zoltán Jókay weiter.

■ Bis 13. März, Sprengel Museum Hannover