Gericht verurteilt französische Bahn

Wegen Beihilfe zur Deportation von Juden während des Zweiten Weltkrieges müssen die französische Bahn und der französische Staat 62.000 Euro Entschädigung an zwei Hinterbliebene zahlen. Die Bahn will das Urteil anfechten

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

62 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes ist eine Bahngesellschaft wegen Beihilfe zur Deportation verurteilt worden. Das Urteil richtet sich gegen die französische SNCF sowie den französischen Staat, weil die SNCF Juden aus Frankreich in Viehwaggons in das nördlich von Paris gelegene Durchgangslager Drancy gebracht hat. Für die meisten Deportierten war Drancy eine Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtungslager. „Die Verwaltung wusste, dass der Transfers im Zusammenhang einer Operation stand, die zur Vorbereitung der Deportation gehörte“, erklärte das französische Gericht. Die Eisenbahngesellschaft SNCF will das Urteil anfechten.

Angestrengt hatten das Verfahren der grüne Europaabgeordnete Alain Lipietz sowie seine Schwester Hélène. Der Onkel und der Vater der beiden Lipietz waren im Mai 1944 von Nachbarn im südwestfranzösischen Pau denunziert und nach Drancy transportiert worden. Dort waren die beiden Männer bis zu ihrer Befreiung 1944 interniert. Drancy war für die meisten der über 75.000 aus Frankreich deportierten und in deutschen KZs ermordeten Juden das letzte Lager in Frankreich. Nach dem Urteil muss die SNCF mit dem französischen Staat 62.000 Euro an die Familie Liepietz zahlen.

„Das Urteil zeigt, dass die SNCF mehr getan hat, als Deutschland von ihr verlangte“, kommentierte Europaabgeordneter Alain Lipietz das Urteil. Er wies auch darauf hin, dass die SNCF sowohl Juden als auch Sinti und Roma sowie Homosexuelle aus Frankreich deportiert habe.

Das Urteil könnte das Bild der SNCF im französischen Kollektivbewusstsein verändern. Bislang gilt die Bahngesellschaft vor allem als Hochburg der Résistance. Den von damals 450.000 Eisenbahnern waren viele an Widerstandsaktionen gegen die deutschen Besatzer und das Kollaborateursregime von Vichy beteiligt. Insgesamt 8.900 Eisenbahner wurden deswegen von den Deutschen erschossen.

Die SNCF hat in den vergangenen Jahren stark an der Aufklärung über die antisemitischen Verbrechen während der deutschen Besatzung mitgearbeitet. Vor 15 Jahren öffnete sie ihre Archive. In den letzten Jahren organisierte sie zahlreiche Ausstellungen auf französischen Bahnhöfen, von denen aus Deportationen stattgefunden haben.

Bei französischen Opferverbänden ist das Urteil gegen die SNCF umstritten. Paradoxerweise vertritt Anwalt Arno Klarsfeld, der vor wenigen Jahren im Prozess gegen den französischen Spitzenfunktionär Maurice Papon jüdische Opferverbände verteidigte, heute die SNCF gegenüber den Nachfahren von Deportierten. Klarsfeld nennt die Klage „demagogisch“. Sein Argument: Heute sollen sich nicht mehr die Gerichte, sondern die Historiker mit der Deportation befassen. Der auf die Deportation und die Résistance spezialisierte Historiker David Douvette sagte der taz, die Justiz habe noch viel Arbeit vor sich. „In zahlreichen Fällen hat es noch gar keine Urteile gegeben. Warum sollen wir da weiterblättern?“

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