Viel Gedränge vor dem Tor

In den kommenden vier Wochen wird auf der Fanmeile zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule die WM gefeiert. Hier ist viel Platz für Fans, Familien und Touristen. Und für einen lebenden Ball

von ANTJE LANG-LENDORFF

Stephan Hells Kopf steckt in einem Ball. Er hat den unteren Teil des Leders abgetrennt und sich den Rest wie eine Bademütze über den Kopf gestülpt. An einen Stehtisch gelehnt lässt er die Menge an sich vorbeiziehen. Ein Mann zeigt auf den runden Kopfschmuck. Hell lächelt schelmisch. „Ich bin der Bruder von Pille, der einzig lebende Ball auf der Fanmeile. Man muss mich nich mal treten, ich beweg mich von selbst“, sagt Hell. „Dit is jut“, antwortet der Mann, klopft ihm auf die Schulter und schlendert weiter.

Nicht ganz Fußballdeutschland, aber immerhin zirka 100.000 Berliner sind am Mittwochabend zur Eröffnung der Fanmeile auf die Straße des 17. Juni gekommen. Familien, Rentnerpaare, Studenten und Touristen schlendern zwischen dem Brandenburger Tor und der Siegessäule hin und her. Vorbei an Würstchenbuden, Bierständen, Großleinwänden und Fanshops. Die Luft ist lau, der Tiergarten noch nicht voll gepisst und die gesperrte Strecke so weitläufig, dass es nur vor dem Brandenburger Tor ein Gedränge gibt wie im Strafraum vor einem Eckstoß. Viele sind nicht wegen des Fußballs, sondern wegen des Spektakels gekommen. „Um mal zu gucken, was hier los ist“, wie es ein Student der Technischen Universität formuliert.

Der Tiergarten rund um die Fanmeile ist mit einem Bauzaun abgesperrt. An den zwölf Ein- und Ausgängen bilden sich zeitweilig Schlangen. Sicherheitsleute durchsuchen Taschen und Rucksäcke und klopfen die Besucher im Schnelldurchlauf nach Waffen ab. Auch Glasflaschen und Böller dürfen nicht mit hineingenommen werden.

Stephan Hell steht da mit seinem Ball auf dem Kopf und betrachtet das Treiben. Jetzt, um sieben Uhr, füllt sich die Straße langsam. Kurz vor der Siegessäule dreht sich ein Riesenrad, doch die meisten Schalen schaukeln noch leer über der Fanmeile. Auch die Sandskulpturen müssen erst noch gebaut werden. Aus mehreren Haufen von gepresstem märkischem Sand wollen Künstler in den nächsten Tagen die Antlitze von Maradona, Jürgen Klinsmann und Franz Beckenbauer herausschaben.

Auch neben Hells Stehtisch hat sich eine Schlange gebildet. Hell betreut zusammen mit einem Freund die Riesentorwand der Fanmeile, eine gespannte Stoffbahn, bei der in vier und acht Metern Höhe jeweils ein Loch geschnitten ist. Viele wollen hier ihr Glück versuchen, doch kaum einem gelingt es auf Anhieb, das Leder einzulochen.

Nur für die Zeit der Weltmeisterschaft mimt Stephan Hell den Ball. In seinem normalen Leben arbeitet der 45-Jährige als selbstständiger Unternehmensberater in Krefeld. „Die Weltmeisterschaft im eigenen Land, das erlebt man nicht so oft. Da hab ich mir vier Wochen freigenommen. Ich mach hier bezahlten Urlaub, was will man mehr“, sagt er. Er zwinkert mit den Augen, wie er es gerne tut, wenn er scherzt.

Weil alle günstigen Unterkünfte schon voll waren, hat er sich mit seinem Freund einen Wohnwagen gekauft. „Original Gelsenkirchener Barockausstattung, Omas Eiche rustikal, aber mit Flachbildschirm“, erzählt sein Kumpel. Der Wohnwagen steht etwas abseits auf einem Campingplatz am Westkreuz, der eigentlich erst am Samstag eröffnen soll. Hell zwinkert wieder. „Die Duschen sind noch nicht fertig, aber das lässt sich mit Deo übertünchen.“

Vorne am Brandenburger Tor hat inzwischen die Show angefangen. Die brasilianische Gruppe Olodum trommelt und tanzt, als hätte Ronaldinho gerade ein Führungstor geschossen. Sechs über die Straße gebaute Großleinwände übertragen den Auftritt bis ans Ende der Meile.

Für viele Tausende, die keine Tickets für das Stadion bekommen haben, ist die Straße des 17. Juni ein schöner geräumiger Ort, um ab Freitag Fußball zu gucken. Zweieinhalb Kilometer ist die gesperrte Straße lang. 80 Kilometer Kabel wurden verlegt. Der Stromverbrauch des Fanfests entspricht dem einer Kleinstadt. Der Eintritt ist frei. Und es gibt nicht nur Budweiser und Bitburger, sondern Berliner Biere, auch wenn der 0,4-Liter-Becher 3,50 Euro kostet.

Noch ist die Veranstaltung allerdings mehr Volksfest als Fanmeile. Nur wenige tragen Trikots oder Perücken in den Nationalfarben. Vor allem die ausländischen Gäste stellen ihren Nationalstolz zur Schau: Eine niederländische Schulklasse läuft mit lauten „Holland, Holland“-Rufen die Straße herunter, einige Zeit später zieht eine Gruppe aus Paraguay singend mit blau-weiß-roten Fahnen vorbei. Doch auch die Deutschen arbeiten an ihrem Outfit, die Fanshops sind gut besucht. „Am besten gehen die deutschen Nationaltrikots für Kinder. Nach Deutschland kommt gleich Brasilien“, sagt der Verkäufer des offiziellen Fifa-Fanshops.

Ein Mädchen begutachtet ein Oberteil in den Farben der deutschen Flagge – und legt es dann doch zur Seite. Ob sie Hemmungen hat, Schwarz-Rot-Gold zu tragen? „Wieso? Ich bin doch Deutsche, ist doch kein Problem. Ich kann das hier nur nicht anprobieren“, sagt die 17-jährige Berlinerin. Sie ist mit ihrem mexikanischen Cousin auf der Fanmeile unterwegs. Sechs Jahre habe er gespart, um sich die WM in Deutschland anzuschauen, erzählt er. Eine Karte für das Spiel Mexiko gegen Angola in Hannover hat er ergattert.

Immer mehr Menschen strömen in Richtung Brandenburger Tor. „Jetzt geht’s los, jetzt geht’s los,“ ruft der Moderator ins Publikum. Richtig los geht es tatsächlich aber erst am Freitag, die Stimmung ist dementsprechend entspannt. Die La Olas, die am Brandenburger Tor beginnen, verebben nach hundert Metern. Am enthusiastischsten ist Klaus Wowereit. „Willkommen in Berlin! Wir freuen uns auf die Weltmeisterschaft in Berlin und Deutschland“, ruft der Regierende Bürgermeister heiser ins Mikrofon. Es klingt ein bisschen übergeschnappt, weil er so schreit. Erst als der mehrfache Weltmeister Pelé die Bühne betritt, jubelt die Menge.

Um kurz nach zehn sammeln Stephan Hell und sein Kollege die Bälle ein. Feierabend. „Jetzt schauen wir uns noch ein bisschen um“, sagt sein Kumpel. Letztlich lehnen sie dann doch nur an ihrem Stehtisch und trinken Bier. Auf der Leinwand im Hintergrund singen die Sportfreunde Stiller „Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir Weltmeister sein.“ Ein Mann will Hell fotografieren. „Ich bin der Bruder von Pille“, sagt er und lächelt. Nachher im Wohnwagen wollen sie es sich noch ein bisschen gemütlich machen.

Antje Lang-Lendorff bolzte für den FC Metropol Berlin einen Sommer in der Hasenheide und beendete ihre Sportlerkarriere dann wegen Untauglichkeit