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: Was die Generation Neon liest: Samantha Hunts fantastischer und großartiger Roman „Nixenkuss“

Was liest die Jugend? Das frage ich mich jeden Monat, weil so die Vereinbarung mit dieser Zeitung lautet, und manchmal denke ich: Was für eine blöde Frage! Irgendwie ist doch jedem klar, dass „die Jugend“ längst davongeschwommen ist in ein Niemandsland, in dem nur noch das gefühlte Alter zählt. Außerdem haben Marktuntersuchungen gezeigt, dass die Zahl der erwachsenen Leser von Jugendbüchern drastisch gestiegen ist. Es gibt Wissenschaftler, die schließen deshalb auf ein regressives Verhalten dieser Klientel. Der angegraute Harry-Potter-Leser als Kind gebliebener, wenn auch nicht unbedingt kinderloser Verantwortungsverweigerer, der vor der Kälte dieser bösen Welt in seine schön warme, kuschelige Lesehöhle flieht – Klappe zu, Leser tot.

Auch was die Generation Neon liest, weiß man nun endlich, seit es das Magazin gleichen Namens gibt. Für die letzten beiden Monate hat es seinen Lesern von 12 bis 42 Norbert Zähringers „Als ich schlief“ und Samantha Hunts „Nixenkuss“ empfohlen. Zähringer, Jahrgang 1967, hat einen Roman über den Zufall und die Wahrnehmung von Wirklichkeit geschrieben, also darüber, worum es bei der Generation Neon irgendwie immer geht. Eine Sekunde später, und Ismael hätte den Sturz aus dem Flugzeug nicht überlebt; eine Sekunde früher, und Alp wäre nicht ins Koma gefallen: Jedes Detail kann eine Kettenreaktion auslösen, weil alles mit allem zusammenhängt. Ein pralles Buch, das vor Fantasie strotzt und sie einer klugen und sehr strengen Erzählstrategie unterwirft. Irgendwie aber auch ein ungefährliches Buch, weil es sich aus der Grauzone des „So könnte es gewesen sein“ nicht hinauswagt.

Das ist bei Samantha Hunt anders. „Nixenkuss“ ist ein fantastisches Buch, weil ein neunzehnjähriges Mädchen darin glaubt, eine Nixe zu sein, seit ihr Vater sich ins Meer verabschiedet hat oder auch einfach nur gestorben ist, so genau weiß man das nicht. Und es ist ein brutal realistisches Buch, weil diese Nixe einen viel älteren Mann liebt, der im Irakkrieg schwer traumatisiert wurde und deshalb zum Trinker geworden ist. Dass Wirklichkeit und Fantasie sich in einem Roman vermischen, ist ja ein Nullsatz, der nur den Boden benennt, auf dem der Roman als solcher nun einmal steht. Aber bei Samantha Hunt, Jahrgang 1971, ist das mehr als eine Verabredung mit dem Leser: In ihrer Versuchsanordnung wird die Wirklichkeit umso klarer, je weiter Hunt ins Traumhafte gleitet. So kommt es, dass der Leser sich in einem Märchen frei nach Andersens „Kleiner Meerjungfrau“ befindet und dass er gleichzeitig in einem hochexplosiven, durchaus politischen Szenario feststeckt und beidem nicht entkommen kann.

Da ist diese junge Frau, die mal als Kellnerin, mal in der Fischfabrik das Wenige verdient, das sie zum Leben braucht, und die sich nach der Liebe zu ihrem Jude verzehrt. Da ist Jude, der Kriegsheimkehrer, dessen Seele wie abgestorben ist und der sich aus seinem ganz undornröschenhaften Versehrtenschlaf partout nicht wach küssen lassen will. Und da ist diese kleine, kalte Stadt im Norden mit ihrer Felsenküste und den vom Wetter zerfressenen Häusern, in der die beiden leben und die nur für eines berühmt ist: für ihre Alkoholikerdichte.

Was für ein trauriges Buch! Was für ein gefährliches Buch! Es könnte einen den Verstand kosten, so irre wird der Leser an dieser Neunzehnjährigen. Sicher, man kann sich davontreiben lassen von der säuselnden Meeresmetaphorik mit ihrer Nixenwelt, aber eine Erlösung ist das nicht. Merkwürdigerweise ist „Nixenkuss“ trotz seiner Märchenhaftigkeit ein Gegenentwurf zur grassierenden Fabuliereuphorie bei Zähringer und anderen geworden. Ein Jugendbuch? Keine Ahnung. Auf jeden Fall eines, das den Leser ungeschützt zurücklässt. ANGELIKA OHLAND

Samantha Hunt: „Nixenkuss“. Übersetzt von Bettina Abarbanell. Marebuchverlag, Hamburg 2006, 216 Seiten, 18 Euro