Die Dinge bleiben stumm

Arne Roß demonstriert mit „Pauls Fall“, dass Kleinigkeiten einen Tag respektive einen Roman füllen können. Vor allem aber: dass erzählte Langeweile auch ziemlich langweilig ist

Leidet die deutsche Literatur an einem Methusalem-Komplex? Im vergangenen Herbst erschien Inka Pareis Roman „Was Dunkelheit war“ über den letzten Tag im Leben eines alten Mannes, der sterbend in seiner Wohnung lag.

Nun legt Arne Roß mit „Pauls Fall“ eine Variation dieses Themas vor. Auch bei ihm geht es um einen alten Mann und um das Geschehen eines einzigen Tages. Allerdings geschieht währenddessen so gut wie nichts. Im Unterschied zu Inka Parei, die ihr Buch im Herbst 1977, in der Zeit der Terrorismushysterie der Bundesrepublik, ansiedelte und von da aus die Bewusstseinsbewegungen ihres traumatisierten Helden zurück bis in den Krieg in Russland verfolgte, gibt es bei Arne Roß weder eine konkrete Gegenwart noch eine bestimmbare Vergangenheit, sondern nur eine diffuse Lebensendmüdigkeit, der jedes Kratzen am Kopf zur Anstrengung gerät. Ein norddeutsches Dorf mit Neubausiedlung und etlichen Baustellen lässt sich als Handlungsort erahnen. Da ist einiges los, aber dann wieder nur so viel, dass jedes Auto und jeder Nachbar einzeln ins Bild rückt in dieser Dauerprozession von Nichtigkeiten.

Minutiös inventarisiert Roß den Tag. Er schreibt annähernd in Echtzeit. Paul sitzt am Küchentisch, liest die Zeitung, unterstreicht Sätze erst rot, dann blau, öffnet eine Schublade, schließt sie wieder, blickt aus dem Fenster auf Birke und Kastanie, ein Hund bellt, und so fort. Das ist tendenziell endlos, sehr schnell aber nur noch langweilig.

Auf Seite 81 gibt es eine winzige Geschichte, aber da hört Paul nicht zu. Er macht einen Spaziergang, besucht einen Professor Schneider, wischt sich Speichel von der Backe, geht in den Wald, wo das Herbstmanöver der Bundeswehr für Lärm und ein wenig Dramatik sorgt, isst den Kuchen, der eigentlich für Professor Schneider bestimmt war, besucht die Freundin Ingeborg, mit der er auf geheimnisvolle Weise vertraut ist, vertrauter als mit seiner Frau, die auch keinen Namen haben darf, sondern nur „G.“ heißt, schläft auf Ingeborgs Sofa ein, findet im eigenen Bett keinen Schlaf und erleidet am Ende vermutlich einen Schlaganfall.

Die Kommunikationsversuche, die Paul unternimmt, sind kaum geeignet, die Monotonie der leeren Zeit zu überwinden. Das geht etwa so: „Wo hast du den Joghurt hingetan?“ – „Sprichst du mit mir?“ Paul will nichts mitteilen, sondern für sich sein. Vielleicht leidet er auch im Rahmen des Üblichen unter der Einsamkeit der Existenz. Was aber will Arne Roß mitteilen? Dass alte Männer schweigsam sind? Dass auch Kleinigkeiten einen Tag respektive ein Buch füllen können? Dass erzählte Langeweile langweilig ist? Er demonstriert, dass er genau hinsehen und Phänomene sehr präzise beschreiben kann. Doch das ist nicht mehr als impressionistische Oberflächengestaltung. Die Dinge entfalten keine Poesie. Sie bleiben stumm. Vielleicht deshalb, weil das beobachtende Bewusstsein so leer ist. Paul fügt dem Geschehen nichts hinzu. Nur der Erzähler spricht um ihn herum und baut seine kunstvolle Ödnis.

Langsamkeit muss nun wahrlich nicht mehr entdeckt werden. Sie stellt sich offensichtlich im Alter naturgemäß ein. In diesem Text ist sie aber zu einem zähen Manierismus geronnen. Der Klappentext verrät, dass Arne Roß, 1966 in Hamburg geboren, in Berlin Schreibwerkstätten leitet. Es ist zu befürchten, dass diese Art von Sterilität als Handwerk gelehrt werden kann. Freuen wir uns nach diesem Beispiel aus der gerontologischen Abteilung der Gegenwartsliteratur auf die Prosa der Kinderreichen. Die wird bestimmt lebendiger ausfallen und dürfte auch nicht mehr lange auf sich warten lassen, wenn Romane so pünktlich zu den saisonalen Feuilletonaufregern erscheinen wie dieser. JÖRG MAGENAU

Arne Roß: „Pauls Fall“. Schöffling & Co, Frankfurt am Main 2006, 192 Seiten, 17,90 Euro