„Bargfeld ist die permanente Expo“

Nebenstelle (7): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Jörg W. Gronius hat Berlin den Rücken gekehrt: Der Stadt, die sich selbst ihrer Kulturorte beraubt und jüngst ein Manhattan für Märklin-Freunde errichtet hat. Die Figuren seiner Texte kommen aus ganz anderer Ferne

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Westberlin war provinziell und wurde dabei von draußen für eine Weltstadt gehalten. Mit diesem Image lebte es sich bequem. Metropole ohne Stress. Dann ging das Tor auf wie die Büchse der Pandora. Ich habe Berlin nicht freiwillig verlassen. Berlin hat sich dessen, was sie für Leute wie mich zur Metropole gemacht hat, selbst beraubt.

Kann sich eine Stadt Metropole nennen, die ihre größte Schauspielbühne, die auch die größte Schauspielbühne Deutschlands ist, schließt? Nein. Man kann einwenden, dass dieser Vorfall nun schon ein bisschen her sei. Mag sein, aber eine solche Vernichtungstat verjährt nicht. Eine Stadt, die sich derart ihrer kulturellen Organe beraubt, ist nicht nur keine Metropole, sie verdient, dass alle kulturell Tätigen ihr für immer den Rücken kehren. Und wenn ich der Einzige bin, der das wirklich gemacht hat, bleibt es doch richtig.

Wo immer man in der deutschen Provinz lebt, man ist heute schnell in einer Stadt, wenn es sein muss, sogar in Berlin. Die Zeit, dass ein Autor als Eremit sich zurückziehen kann wie Arno Schmidt, ist vorbei. Autoren heute müssen sehr berühmt sein, wie etwa Botho Strauß, um sich so etwas leisten zu können. Im Normalfall ist der Autor heute mobil und wohnt im ICE. Literaturfrühling in Schwachenbuch, Bücherherbst in Langenweil, Literarischer Sommer in Alt-Papieren, Winter der Poesie in Schundhausen, Wettlesen in Klagenbach, Revuebesprechung in Halle, Librettobesprechung in Nürnberg, Messe in Leipzig, Messe in Frankfurt, Lesetour mit dem neuen Buch von Oktober bis Dezember ... – es hört nicht auf. Schreibblockade? Da lachen wir drüber. Was wir haben sind Akkuprobleme.

„In Berlin kannste nüscht werden, in Berlin musste wat sein.“ Also muss man weg, um was zu werden. Und wenn man gelegentlich zurückkommt, ist man erstaunt, wie gleich und wie langweilig in den letzten zehn Jahren doch alles geblieben ist. Die Öde am Potsdamer Platz, diesem Pseudo-Manhattan für Märklin-Freunde. Die Leute rempeln sich an, brüllen rum, und wenn man U- Bahn fährt, steigt sofort einer mit Gitarre ein und singt „Tiritomba“. Das zerlumpte Mädchen, das am Bahnhof Zoo die Leute anbettelt mit der Begründung: „Ick muss janz dringend nach Erfurt!“ wird angeblafft: „Ick weeß, det musste jeden Tach.“ Außerdem geht vom Zoo nichts mehr nach Erfurt. Dafür steht man am Hauptbahnhof tatsächlich im Regen. Man schneidet Dächer ab und schließt Theater: „Sehn Se, det is Berlin!“

Die einzige deutschsprachige Stadt, die in Sachen Kunst und Literatur den Titel Metropole verdient, ist Wien. Als Schriftsteller lebt es sich dort am besten. Elfriede Jelinek, Thomas Bernhard und andere, die Wien immer beschimpfen, haben doch niemals daran gedacht, ihre Stadt zu verlassen. Ich weiß, dass es sich nirgends besser schreibt als in Wien. Wien ist eine Metropole ohne Stress.

Und doch wurde es dann Hannover. Großstadt sei Großstadt, könnte man mit Arno Schmidt sagen, in dessen Bargfeld mich ein Schicksal führte, das mit Arno Schmidt nichts zu tun hatte. Zehn Jahre habe ich nun in Bargfeld gewohnt, in Hannover gearbeitet. In Bargfeld ist fast mehr los als in der Landeshauptstadt. Allein drei Verlage. Ein Buchhändler, der in alle Erdteile versendet. Gestern die Studenten aus Bielefeld, heute ein Filmteam aus Argentinien, morgen ein Übersetzer aus Ungarn, danach Gipfeltreffen zwischen Bamberg und San Diego. Es wimmelt international. Bargfeld ist die permanente Expo. Und wenn ich mich mal mit meinem Freund Bernd Rauschenbach in Bargfeld auf ein Bier treffen will? „Vergiss es“, sagt seine Frau und lacht bitter. „Der ist natürlich mal wieder mit Zettel‘s Traum unterwegs: heute Rio, morgen Shanghai.“

Unterdessen bin ich erstmal im Bistum Trier. Vom Hermannshof bei Springe stieg ich mit dem traditionellen Ballon auf und landete nach Tagen und Nächten am äußersten westlichen Rand unseres Landes, an der Spitze, die nach Frankreich hineinragt. Die Menschen sprechen anders, sie machen bessere Bratkartoffeln als die Niedersachsen, gehen zum Bier in die Pils- Stube und tragen flache Kappen. Es ist angenehm, diese Arbeitsdienstmützen der norddeutschen Landmänner nicht mehr zu sehen. Und endlich richtiges Baguette!

Für meine Arbeit sind die Menschen meiner Umgebung nicht so wichtig. In meine Bücher kommen ganz andere, die ich von weit her hole, aus anderer Zeit, aus einem anderen Berlin. Aus der Antike. Das Grün einer Schaufenstergestaltung am Kottbusser Damm um 1956 lebt in mir. Neulich fand ich es in Saarbrücken wieder in einer Ausstellung über den Anschluss des Saarlandes. Da geht einem das Herz auf. Die heutigen Farben Berlins unterliegen den Moden. Die liegen mir fern.

Als Dichter sucht man die Nähe der Götter; es geht ja nicht anders. Dionysos bin ich bereits recht nahe gekommen. Und den fand ich nicht in der Metropole Athen.