„Ich komme von der Straße“

Eralp Uzun

„Als ich das erste Mal geschwänzt habe, hatte ich ein total schlechtes Gewissen, weil ich gegen eine Regel verstoßen hatte. Aber irgendwann war das Alltag: Schule schwänzen, sich mit den Jungs treffen, abhängen, Mist bauen“ „Man muss doch nur mal nach Marzahn oder Hellersdorf gehen, wo die deutschen Jugendlichen auf der Straße hängen. Da gibt es das gleiche Mackertum. Die haben eine andere politische Ideologie. Aber die Lage ist dieselbe“

RTL-Zuschauer kennen Eralp Uzun. Seit Ende April ist er jeden Freitag in der Titelrolle der Comedyserie „Alle lieben Jimmy“ zu sehen. Aufgewachsen ist der gebürtige Neuköllner im Kreuzberger Wrangelkiez. „Auf der Straße“, wie er sagt. Er traf auf frustrierte Lehrer, schwänzte die Schule und hatte Probleme mit der Polizei. Dennoch schaffte der Sohn türkischer Einwanderer den Absprung in eine Schauspielerkarriere. Im Moment probt er mit seiner Spandauer Theatergruppe „Die Brüder Karamasow“, im September ist Premiere. Zudem übernimmt er in der RTL-Krimiserie „Abschnitt 40“ eine Gastrolle. Wenn er Zeit hat, hilft der 24-Jährige seinen Eltern in ihrem Kiosk am Kottbusser Tor

Interview Alke Wierth

taz: Herr Uzun, seit Ende April sind Sie ein TV-Star. In der RTL-Serie „Alle lieben Jimmy“ spielen Sie die Titelrolle. Werden Sie nun oft Jimmy genannt?

Eralp Uzun: Ja! Das ist auch okay. Ich werde oft auf die Serie angesprochen. Viele sagen, super, mach weiter, und es gibt andere, die sagen: Warum machst du so was? Denen ist das moderne Leben einer türkischen Familie in Deutschland, wie es in der Serie gezeigt wird, vielleicht zu offen, zu tolerant.

Sind Sie ein Vorbild?

Ich hoffe, nicht immer.

Warum das denn?

Ich war ja nicht immer ein lieber Junge. Ich bin viel in falschen Kreisen gewesen, in Kreuzberg mit jungen Leuten unterwegs. Wenn man da aufwächst, dann geht das gar nicht anders. Ich komme von der Straße.

Was heißt das?

Es heißt, sich aus Zwängen zu befreien, die die Älteren dir auferlegen möchten, die die Gesellschaft dir auferlegen möchte. Dieses Rebellische, das ist auf der Straße sein. Es heißt auch, Freunde oder Kumpels zu haben, die einem ein bisschen Halt geben können im Leben, manchmal illusionär, aber manchmal auch wirklich. Auf der Straße sein, das ist so etwas wie ein Freiheitsgefühl.

Wie lief denn so ein Tag ab? Sie waren damals auf dem Gymnasium – haben Sie dann die Schule geschwänzt, oder sind Sie erst am Nachmittag auf die Straße gegangen?

Anfangs bin ich immer zur Schule gegangen. In der 7. Klasse hatte ich ja sechsmal in der Woche Nachhilfe, um alles nachzuholen, was ich in sechs Jahren Grundschule nicht gelernt hatte.

Warum haben Sie da nichts gelernt?

Ich war auf einer Grundschule, auf der nur türkische Kinder waren. Das konnte nicht klappen, das ging gar nicht! Die Lehrer hatten aufgegeben, uns was beizubringen. Wir haben da nicht mal richtig Deutsch gelernt. Ich hatte dann eine Realschulempfehlung, aber meine Eltern wollten unbedingt, dass ich zum Gymnasium gehe. Als ich das erste Mal geschwänzt habe, hatte ich ein total schlechtes Gewissen, weil ich gegen eine Regel verstoßen hatte. Aber irgendwann war das Alltag: Schule schwänzen, sich mit den Jungs treffen, abhängen, Mist bauen.

Sie waren Ende der 80er-Jahre auf einem Gymnasium in Treptow. Gab es da viele Schüler türkischer Herkunft?

Drei. An der ganzen Schule. Aber es gab da keine Nazis, die meisten Schüler waren eher links. Da habe ich mich schon wohl gefühlt. Aber ich war immer der kleine Racker aus Kreuzberg. Wenn mich mal einer dumm angemacht hat, dann habe ich mir Respekt verschafft …

Sie wollten, dass die anderen Angst vor Ihnen haben?

Irgendwann war das ja nur noch Show. Man hat so ein Image, und das muss dann auch gepflegt werden.

Und abends?

Abends waren wir auf der Straße, in Hinterhöfen oder an bestimmten Ecken. Anfangs ist noch eine Art Romantik dabei: Das ist eben schön, wenn man jung ist und diese krassen Zwänge nicht hat. Mist ist, wenn man den Absprung nicht schafft und mit 20, 24 immer noch auf der Straße rumhängt. Dann wird es irgendwann trist. Wenn ich heute bei meinen alten Freunden vorbeischaue und frage, wie es steht, dann sagen die nur: Kennste doch, wie soll es laufen.

Wie haben Sie denn den Absprung geschafft?

Teils durch meine damalige Freundin, teils auch durch meinen familiären Einfluss. Und mitunter war es auch mein eigener Kopf. Man kriegt Angst auf der Straße, wenn man älter wird. Irgendwann geht es nicht mehr um Kinderspielereien. Es wird gefährlicher. Heute ist immer noch so ein kleiner Bad Boy in mir drin. Aber den will ich auch nicht verlieren. Das hat mir auch viel beigebracht. Selbstbewusstsein, nicht immer einfach zu allem Ja und Amen sagen. Aber ich habe keine Zukunft gesehen, ich habe gesehen, irgendwann kriegst du einen Messerstich ab, oder du stichst jemanden kaputt oder was weiß ich was.

Hatten Sie mal ernste Schwierigkeiten?

Ja.

Und hat Ihre Mutter geweint?

Klar!

Wie war das?

Schrecklich.

Was haben Sie ihr denn gesagt?

Na, dass das nicht noch mal vorkommt. Ist aber noch mal vorgekommen, aber nur noch einmal.

Wie sind denn Ihre Eltern?

Sie sind in den 70er-Jahren aus Malatya in der Osttürkei nach Deutschland gekommen. Mein Vater hat als Schlosser gearbeitet, meine Mutter in der Fabrik. Ich bin wie ein Einzelkind aufgewachsen, meine Schwester ist 16 Jahre älter als ich, und ich war immer der verwöhnte kleine Junge. Ja, wir sind nur zwei Geschwister, nicht wie im Klischee die Familie mit 4, 5, 6 Kindern! Und meine Eltern sind klasse. Meine Mutter hat keine Schulbildung, sie hat sich Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Als ich mal Probleme mit der Polizei hatte, hat sie mich gefragt: Junge, brauchst du Hilfe, willst du eine Therapie machen oder so was?

Wie lief das denn bei Ihren Freunden ab? Haben die Familien mitgekriegt, was die so machen?

Oft überhaupt nicht. Viele Eltern fragen gar nicht, was die Jungen so machen, die interessiert das nicht. Und wenn dann doch mal was rauskommt, dann setzt es Schläge. Meine Eltern haben mich nie geschlagen. Und viele reagieren dann, indem sie ihren Eltern gar nichts mehr sagen, sich auch von denen gar nichts mehr sagen lassen. Auch nicht von den Vätern. Die kennen dann eben nur noch Gewalt: You wanna fuck me? I gonna fuck you!

Kommen Lehrer oder Sozialarbeiter an solche Jungen dann überhaupt noch ran?

Viele haben aufgegeben. Die stoßen ja manchmal auch auf Granit, weil die Kinder aus diesen Kreisen eben schwierig sind. Aber dann lassen sie auch schnell ab und sagen, na ja okay, ich hab dir jetzt zehnmal was angeboten, auf das elfte Mal habe ich keinen Bock mehr. Dann stellen sie einen Kicker hin und eine Tischtennisplatte und sagen, nun macht mal. Aber wenn man den jungen Leuten mal wirklich nahe kommt, von Gesicht zu Gesicht, und ihnen sagt, hey, willst du nicht was anderes, dann merken sie zwar erst mal, das ist ein Einschnitt in ihre Welt. Aber sie hören doch zu: Was ist denn die Alternative, kann ich wirklich was anders machen?

Wenn heute über Gewalt zum Beispiel an Schulen diskutiert wird, geht es fast immer um türkische oder arabische junge Männer.

Wenn die von den Eltern, in der Schule, auf der Straße, in den Medien immer nur hören, du bist der Buhmann, was ist los, du schlägst deine Lehrerin, wenn sie von morgens bis abends immer nur hören, dass sie die Terrorkinder sind, das bringt eine Blockade in denen hoch, und die sind sehr hart. Die sagen sich dann: „Ihr könnt mich mal am Arsch lecken, ich mach jetzt mein Ding.“ Die Frage ist doch: Sind es nur die ausländischen Kids, die so drauf sind? Man muss doch nur mal nach Marzahn oder nach Hellersdorf gehen, wo die deutschen Jugendlichen auf der Straße hängen. Da gibt es das gleiche Mackertum, die sind auch eine Mackergesellschaft. Von Morgens bis abends Bier saufen, dann jemandem eine reinhauen. Die haben vielleicht eine andere politische Ideologie. Aber die Lage ist dieselbe. Das ist immer auch ein Kampf zwischen Arm und Reich.

Die Jungen wollen einfach ein besseres Leben?

Ja, beruflich was auf die Bahn bringen, Familie. Die haben die gleichen Träume, die jeder hat. Aber die wollen sich vielleicht weniger sagen lassen. Viele von den Jungen wollen was Handwerkliches lernen oder rappen, Sänger oder Graffitizeichner werden. Man müsste sich mehr um die positiven Talente der Jugendlichen kümmern. Nicht immer nur das Negative sehen und dann draufhauen. Sie stattdessen fördern und auch mal mit den Eltern reden, damit die mitziehen.

Genau das versuchen doch die Sozialarbeiter.

Ja, aber sie müssten sich vielleicht auch mal mehr mit den Einzelnen befassen, statt immer eine ganze Gruppe anzusprechen. Einfach mal jemanden einzeln rannehmen zwischendurch und ihn fragen: Was ist denn mit dir? Wirklich auch beobachten und gucken und die Talente rausfiltern von Einzelnen. Und daran dann andocken.

Was haben denn Ihre alten Freunde dazu gesagt, dass Sie Schauspieler geworden sind?

Die fanden das gut. Die fanden auch gut, dass ich aufs Gymnasium gegangen bin. Ich wollte schon immer Schauspieler werden, das ist irgendwie in meinen Genen. Ich hab’s an zwei Schauspielschulen versucht. Als ich abgelehnt worden bin, war ich enttäuscht, aber ich habe nicht aufgegeben. Dann hab ich Theater gespielt, in einer Spandauer Gruppe, und dann lief es. Und es geht hoffentlich weiter!

Haben Sie darüber nachgedacht, ob Sie Ihre Geschichte verheimlichen müssen, als Sie mit der Rolle des Jimmy bekannter wurden?

Nein. Ich stehe zu meiner Vergangenheit, dazu, dass ich auf der Straße war. Ich habe nichts zu verheimlichen. Ich komme aus dieser Gesellschaft.

Und wer sind Ihre Vorbilder?

Martin Luther King, Malcolm X, Gandhi, so Freiheitstypen. Leute, die es schaffen, gewaltlos was auf die Beine zu stellen. Und als Schauspieler Marlon Brando. Wie sollte es anders sein?