Gesamtkunstwerk Hörschule

Die totale atmosphärische Überwältigung mit Mineralwasser, Deleuze und Blutwurst: Wagner hören und Wagner debattieren im Hebbel am Ufer

Als Aperitiv gibt es Mineralwasser. Das hatte während einer „Brunnenkur“ des 30-jährigen Wagner zwar seine gedeihliche Wirkung verfehlt – weil der lieber mit Grimms „Deutscher Mythologie“ in den Händen durch die Gärten jagte, anstatt sich gebotener Ruhe anheimzugeben. Das lesen die Gäste der „Wagner-Hörschule“ schon im Foyer, auf kopierten Auszügen aus Wagners Autobiografie. Die reinigende Kraft des Vorab-Wassers werden sie gut brauchen können, um durch diesen Abend zu kommen, der nur unwesentlich weniger Zeit verbraucht als eine durchschnittliche Wagner-Oper.

Wie Wagner das mit der rauschhaften Überwältigung hinbekommt und wie er als erster Moderner und Vorreiter auch zeitgenössischer elektronischer Musik qualifiziert werden kann – das ist so in etwa das ambitionierte Analysevorhaben der beiden Hörschulen-Macher. An vier Abenden wollen Opernregisseur Sebastian Baumgarten und Kunstwerke-Kurator Anselm Franke in einer Mischung aus Gelage, Workshop, Konzert und Symposium ein Wagner’sches Gesamtkunstwerk nachbilden, das die „Penetrationsmaschine Wagner“ zu etwas Dialogischem macht. Da haben sie sich viel, vielleicht zu viel, vorgenommen.

Während die 100 Gäste an langen Tischen sitzen und ein Dreigängemenü serviert bekommen, müssen sie im Multitasking-Modus Filmausschnitte betrachten, Musik hören, Vorträgen lauschen und Overhead-Projektionen folgen. Zum „Untergrund-Süppchen“ aus Wurzelgemüsen schreitet Staatsoper-Bariton Roman Trekel durch die Reihen, trägt Amfortas Klage aus „Parsifal“ vor und schmiert Kunstblut auf die Tischdecke. Das ist ein bisschen wie „Pomp, Duck and Circumstance“ in der Geisterbahn. Zur überaus detailreichen Motivanalyse von Professor Gerd Rienäcker gibt es „Himmel un Ääd“. Als Anselm Franke den Wagner-Kosmos aus Mittelalterchristen, Griechen, fellbehangenen nordischen Götter, russischen Konstruktivisten, Romantikern, Jazzern, Nazis und Klubgängern umreißt, kratzen die Gäste Blutwurstreste aus Wurstdärmen.

Man kommt kaum dazu, seiner Tischnachbarin mal zuzuprosten – zu stark ist man mit der zeitgleichen Verarbeitung von Nahrung und einer schier unendlichen Diskursmelodie beschäftigt, die die Männer an den Mikrofonen produzieren: Es geht um pure Affekte, vibrierende Intensitäten und den Rausch als nichtfaschistoid Utopisches.

Ohne Toilettenpause wird umgezogen in Kissenlandschaften, auf denen ein unter „Rheingold-Sorbet“ firmierendes Zitronenwassereis verspeist und Friedrich Kittlers Ausführungen gelauscht wird. Der klassifiziert Wagners komponierten „Welt-Atem“ als Feedback-Schleife und damit als Beweis für die Souveränität von Medien. Kittler eben. Mit der geplanten „totalen atmosphärischen Überwältigung“ hat dieses Fanfest intellektueller Jungs mit Sättigungsbeilage bis hierher wenig zu tun.

Zum Glück gibt es zum Schluss noch das Bild-Konzert von Rechenzentrum: Marc Weisers von hübschen Störknurpslern durchsetzte Dicksound-Schichten fließen in tribalistisches Bongogetrommel. Dazu blendet Lillevan Bilder aus Fritz Langs „Nibelungen“ auf Sternenkreuzer, den Laserschwert schwingenden Luke Skywalker und die Waffenfabriken von Sarumans Ork-Truppen. Da endlich war ein rauschhafter und gleichzeitig ironischer Kommentar auf das zu Große, zu Gewaltige, zu Massenhafte. Wagner-Schulung macht mehr Spaß mit Laptop und Hollywood als mit Deleuze und Blutwurst.

KIRSTEN RIESSELMANN

13. 6.: Wagner-Hörschule 3: „Die Kriegsmaschine“, 15. 6.: Wagner-Hörschule 4: „Permanente Revolution“, jeweils 19.30 Uhr, HAU 1