Die Berlin Biennale als Kirchentag: Protestantische Erbauung am Problembewusstsein – oder doch lieber ästhetisch produktives Augentränen?
: Ich und die Wirklichkeit

VON ULRICH GUTMAIR

Die Wirklichkeit, das sind immer die anderen, könnte man meinen. Das Motto der diesjährigen Berlin Biennale jedenfalls lautet „Was draußen wartet“. Wäre nur zu klären, wo genau draußen ist? Und wo sind sie bloß, die anderen? In Mitte sind sie nicht mehr, da kommen sie nur als Touristen vorbei. Aber in Kreuzberg, da findet man sie sicher. Nicht nur in den Kunst-Werken in der Auguststraße, wo die Biennale einst begann, wird Kunst gezeigt. In diesem Jahr werden auch ein Eckhaus am Oranienplatz und einige andere Orte in Kreuzberg mit zeitgenössischer Kunst bespielt.

Die Pressekonferenz der Biennale findet gleich um die Ecke in der Waldemarstraße statt. Im Kulturzentrum Anatolischer Aleviten kochen Gemeindemitglieder für die hungrige internationale Presse köstliches Essen. Es gibt Huhn mit Reis und Salat. Drinnen im Saal hängen drei große Plakate. Auf dem größten in der Mitte ist Ali, der Schwiegersohn Mohammeds, mit Krummschwert und Löwe zu sehen.

Und im Hof? Pola Sieverding trägt einen Stoffbeutel mit „Beuys“-Aufdruck, das Biennale-Personal lilafarbene T-Shirts. So kommt es einem fast vor, als besuche man einen Kirchentag. Und ist eine Biennale nicht fast auch so was wie ein Kirchentag? Wenn dem so ist, dann kann sich dieser Kirchentag nicht so recht entscheiden, welchem Bekenntnis er folgen soll: Im Kreuzberger Teil der Ausstellung geht es ganz protestantisch zu, mit politisch korrekter Dokumentarkunst. Es ist – trotz der vielen Bilder aus dem wahren Leben echter Menschen, und auch wenn dasselbe noch so ironisch gebrochen dargeboten wird – ein trockenes Stück Brot, das es da zu kauen gilt. Man sähe das alles lieber im Fernsehen, gemütlich auf der Couch, wenn etwa eine Frau mit Kopftuch vor Plattensiedlung das Playback zu „Halleluja“ in der Version von Jeff Buckley gibt.

Da ist es wieder, das alte Problem des Kulturprotestantismus: „die Wirklichkeit“ in Gestalt von Politik & Soziales, die im Ritus nix verloren hat, legt sich wie ein Wort zum Sonntag aufs Gemüt. Aktivistische Kunst ist keine, und solche, die die „Wirklichkeit“ bloß zum Thema hat, auch nicht.

In Mitte, in den Kunst-Werken aber, ist alles – soll man sagen: Gott sei dank? – ganz anders. Da werden existenziellere Fragen aufgeworfen, die sich an den Betrachter richten und in ihm womöglich sogar was durcheinanderbringen für einen Moment. Hier treffen Ich und die Wirklichkeit, das Selbst und das Andere vermittelt durch die Kunst aufeinander, um mal laut, mal leise zu kollidieren. Es schlagen in den Synapsen die Funken, wenn der Kosovare Petrit Halilaj in den großen Raum im Erdgeschoss das riesige Verschalungsgerippe seines Hauses stellt und Hühner ansiedelt. Um die Ecke hat er ein Aquarium aufgestellt, in dem drei Motoren das Wasser in Bewegung setzen, was wiederum eine lange Hühnerfeder ganz sachte vibrieren lässt.

Es tränen die Augen im superweißen White Cube, aus dem heraus auf die durchs Dach der Kunst-Werke brechende Haus Halilajs zu schauen ist. Es ist so weiß hier drin, dass Ecken und Kanten verschwimmen und man statt eines Außen die merkwürdig aussehenden Organismen im eigenen Auge sieht. Die Wirklichkeit, ist das nicht doch zuerst einmal Effekt des eigenen Wahrnehmungsapparats?

Wie sagte noch der von den Aleviten verehrte Mystiker Hadschi Bektasch Vali: „Was immer du suchst, sollst du bei dir suchen. Nicht in Jerusalem, Mekka oder auf der Pilgerfahrt.“