Die Outsider von Sofia

JUGEND Das ZDF zeigt mit „Zwei Klassen“ den bulgarischen Beitrag zur Eurovision Film Week (0.10 Uhr)

Der Nachwuchs ist destruktiv, hoffnungslos, chancenlos – und die Erwachsenen sind fatalistisch, zynisch und korrumpiert

VON JENS MÜLLER

Literatur- und Kinogeschichte: 1983 verfilmt Francis Ford Coppola den Schullektüren-Jugendbuchklassiker „The Outsiders“ von Susan E. Hinton. Die Geschichte über die sich aus dem White Trash rekrutierenden „Greasers“ gegen die wohlstandsverwahrlosten „Socs“. Die Konkurrenz zweier Gangs eskaliert, es gibt Tote. Der Held, der literarisch begabte „Greaser“ Tonyboy Curtis wäre in einer Welt der Chancengleichheit zu höherem berufen. Matt Dillon, Patrick Swayze, Rob Lowe, Emilio Estevez, Tom Cruise – der Film war auch ein Starvehikel des Achtziger-Jahre-Brat-Packs.

Die Gegenwart: 2011 verfilmt der bulgarische Regisseur Atanas Hristoskov das von ihm mit seinem Koautor Yavor Myhailov verfasste Drehbuch zu „N1“ (deutscher Titel: „Zwei Klassen“). Die armen Jugendlichen aus Sofias Plattenbaugettos, die auf die „16.“ Schule gehen, gegen die Politiker- und Geschäftemacher-Söhne von der „81.“ Die Konkurrenz zweier Gangs eskaliert. Der Held, der musisch begabte Sprayer Alex von der „16.“, wäre in einer Welt der Chancengleichheit durchaus zu Höherem berufen. Die Schauspieler kennt hierzulande niemand, in Bulgarien sieht es vermutlich ähnlich aus. Vor dem Abspann die Texttafel: „Während der Dreharbeiten wurden zwei der 16-jährigen Darsteller von Gleichaltrigen im Stadtzentrum von Sofia zusammengeschlagen …“

Motive, Plot und Dramaturgie beider Filme sind eng beieinander. Doch die Ästhetik könnte kaum unterschiedlicher sein. Wo Coppola Mythen bedient, kommt „N1“ quasi-dokumentarisch daher und setzt hinter seinen Authentizitätsanspruch mit jener Texttafel noch ein Ausrufezeichen. Man kann es erstaunlich und erfreulich finden, dass es für das staatliche bulgarische Fernsehen offenbar kein Problem darstellt, sich seinen europäischen Partnern von der European Broadcasting Union (EBU) mit einem Film vorzustellen, der den eigenen Nachwuchs so destruktiv, hoffnungslos, chancenlos und die Erwachsenen so fatalistisch, zynisch, korrumpiert zeigt. Es gibt natürlich eine glorreiche Ausnahme, den melancholischen, idealistischen, trinkenden Lehrer.

Die EBU ist als Verbund von Rundfunkanstalten hauptsächlich dadurch bekannt, dass sie jedes Jahr den Eurovision Song Contest veranstaltet. Aber das ist nicht alles. Die EBU veranstaltet auch, erstmals in diesem Jahr, die Eurovision Film Week – laut bescheidener, orthografisch eigenwilliger Selbstauskunft: „the largest, most ambitious, multimedia film festival ever staged“. So groß also, dass es keiner weiteren Eigenwerbung bedarf. Sollte gleichwohl irgendwo irgendjemanden die Kunde des vom 1. bis zum 6. Dezember abgehaltenen Großereignisses nicht rechtzeitig erreicht haben, so weiß das ZDF mit seinem „Kleinen Fernsehspiel“ zu helfen.

Es zeigt in der Nacht von Montag zu Dienstag unter dem hintersinnig-doppeldeutigen deutschen Titel „Zwei Klassen“ den bulgarischen Beitrag „N1“.

25 Filme waren von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in einen Pool geworfen und den Partnern zur Ausstrahlung zur Verfügung gestellt worden. Die deutschen Beiträge für den Pool waren übrigens Ayse Polats „Luks Glück“ und Bernd Böhlichs Horst-Krause-Weihnachtskomödie „Krauses Fest“.

Warum hat sich das ZDF ausgerechnet für „N1“ beziehungsweise „Zwei Klassen“ entschieden? ZDF-Redakteur Jörg Schneider begründet die Ausstrahlung damit, dass der Film besser als alle anderen in das „Kleine-Fernsehspiel“-Konzept passe: Debütfilm, junge Menschen, ungeschminkte soziale Realität. Und natürlich mit der herausragenden Qualität des Films.

Nun müsste man alle anderen Filme auch gesehen haben und würde dann vermutlich die Frage stellen wollen, ob denn keiner der sonstigen Filme es wert gewesen wäre, auch gesendet zu werden. Aber Programmplätze sind offenbar ein zu knappes Gut im öffentlich-rechtlichen Kosmos. Immerhin: Der vom ZDF als „erster ‚Hip-Hop‘-Film Bulgariens“ annoncierte Film war gewiss keine unglückliche Wahl.

Und dem melancholischen, idealistischen, trinkenden Lehrer schenkt der traurige Film am Ende noch ein Glückserlebnis.