Was ist Prekarisierung?
: Arbeiten für drei Euro brutto

Der vom lateinischen „precarius“ abgeleitete Begriff „prekär“ bedeutet im eigentlichen Sinne des Wortes „misslich“, „schwierig“, „heikel“ oder auch „vorübergehend“. In der französischen Soziologie wird er spätestens seit den frühen 1980er-Jahren gebraucht, um bestimmte Arbeitsverhältnisse zu beschreiben, mit denen der Betroffene nicht seine Existenz bestreiten kann.

Heute wird der Begriff „prekär“ benutzt, um einen tief greifenden Wandel in der Arbeitswelt zu erfassen. Er beschreibt nicht nur Arbeitsplätze mit niedrigem Lohn, mangelndem Kündigungsschutz, geringer Arbeitsplatzsicherheit oder fehlenden Maßnahmen, um soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Darunter gefasst werden sämtliche Arbeitslose, PraktikantInnen und Menschen, die nicht mal Hartz IV in Anspruch nehmen dürfen. In der Mehrheit sind es junge Menschen, die sich von einem Niedriglohnjob zum nächsten hangeln. Immer stärker sind es aber auch erfahrene Erwerbstätige über 59, die sich angesichts der hohen Arbeitslosigkeit gezwungen sehen, für einen Stundenlohn von drei Euro brutto zu malochen. Um zu überleben arbeiten viele 14 Stunden am Tag und mehr.

Früher waren es die sozial Schwachen, die prekär lebten und arbeiteten. Inzwischen hat die Erscheinung auch die Mittelschicht erreicht. Besonders betroffen ist der Dienstleistungssektor, weil hier besonders viele Arbeitnehmer ohne gewerkschaftlichen Schutz sind. Generell sind Frauen häufiger betroffen, hoch ist der Anteil auch unter Behinderten. Die Extremform: illegalisierte MigrantInnen. Ohne Rechte sind sie den Arbeitgebern hilflos ausgesetzt.

Prekarität hat Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche. Da der Prekarisierte nur wenig Einfluss auf die Gestaltung seiner Arbeit hat, nicht vorausplanen kann, nur einen mangelhaften sozial- und arbeitsrechtlichen Schutz genießt und ihm ständig auch materielle Armut droht, blickt „Homo precarius“ mit einem dauerhaft pessimistischen Blick in die Zukunft.

Prekarität trifft jedoch nicht nur die unmittelbar Betroffenen. Die bloße Angst davor genügt, um auch diejenigen zur vielzitierten „Flexibilität“ anzuspornen, die noch in einem regulären Arbeitsverhältnis stecken.

In Deutschland ist die offizielle Quote prekärer Arbeitsverhältnisse noch verhältnismäßig gering. Den Angaben des Statistischen Bundesamts zufolge liegt sie bei rund 10 Prozent. Tatsächlich ist sie jedoch nicht wirklich quantifizierbar. Schwarzarbeiter, Illegalisierte oder Nebenverdienstler tauchen in dieser Statistik nicht auf. Fest steht: Der Anteil der Normalarbeitsverhältnisse ist von einst 80 Prozent in den 1970er-Jahren auf nunmehr 63 Prozent aller Erwerbstätigen zurückgegangen. Zwei Drittel aller Neuanstellungen werden inzwischen von vornherein zeitlich befristet. Über ein Viertel der Bevölkerung ist nicht mehr in existenzsichernde Erwerbsarbeit einbezogen.

Berlin ist die Hauptstadt der Prekarisierten. Nach Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung gibt es über 307.000 Lohnbezieher mit niedrigem und sehr niedrigem Einkommen. Jeder 5. Erwerbstätige dieser Stadt bezieht Armutslohn, der unter 75 Prozent des jährlichen Durchschnittsverdienstes von 26.200 Euro liegt. Zum Vergleich: 1993 war es nicht mal jeder 7. Erwerbstätige. FELIX LEE