Der alte Mann und der Park

Christoph Schaaf wohnt mitten in der Fanmeile. Niemand kennt den Tiergarten so gut wie der einstige Vizechef des Grünflächenamts. Die Fußball-WM sei nicht so schlimm wie die Love Parade

von Plutonia Plarre

Der Waldkauz hat längst die Segel gestrichen. 120 Dezibel im Tiergarten sind für einen gefiederten Jäger, der seine Beute ausschließlich mit den Ohren ausmacht, zu viel. Ganz anders die Nachtigall. In den Stunden rund um Mitternacht, wenn die Fußballparty auf der Fanmeile den höchsten Lärmpegel erreicht, wird der Gesang des winzigen Vogels zum Crescendo. „Der Krach animiert die Nachtigall geradezu“, erzählt Christoph Schaaf. Der frühere stellvertretende Leiter des Grünflächenamts Tiergarten weiß, wovon er spricht. Er wohnt seit 38 Jahren mitten im Tiergarten, hundert Meter von der Straße des 17. Juni entfernt. Die biberschwanzgedeckte, weinüberwucherte Villa auf dem Gelände des Grünflächenamts ist von außen kaum zu sehen, so gut ist sie hinter dichtem Grün der Büsche versteckt.

Schaaf ist ein großer schlanker Mann mit Halbglatze und sonnengebräuntem Gesicht, indem zwei lebhafte Augen blitzen. Nach seiner Pensionierung im vergangenen Jahr wurden ihm und seiner Frau Frau gestattet, in dem Haus wohnen zu bleiben. Es gibt wohl kaum einen Menschen, der sich so gut in der 198 Hektar umfassenden Parklandschaft auskennt und der so voller Liebe über die heimische Fauna und Flora spricht. Nur wenn auf dem 17. Juni ein Megaevent wie die Love Parade oder nun die vier Wochen lange WM-Party tobt und 120 Dezibel die Fensterscheiben seiner Wohnung vibrieren lassen, würde Schaaf am liebsten dem Waldkauz folgen. Das geht aber nicht. Schaafs Wohnung liegt nämlich mitten im zur WM abgezäunten Parkareal.

Wenn er mit dem Auto zum Einkauf fahren will, kann er das selbst mit Sondererlaubnis nur am frühen Morgen tun. Dabei interessiert ihn Fußball überhaupt nicht. Als 300.000 Menschen in seiner Nachbarschaft das Spiel Deutschland gegen Costa Rica verfolgten, schnitt er im Garten Rosen. „Als gedämpfte Schreie erklangen, wusste ich, Costa Rica hat ein Tor geschossen. Bei den Treffern der Deutschen gingen Raketen in die Luft.“

Abgesehen vom nächtlichen Lärm gehe es auf der Fanmeile im Vergleich zur Love Parade bislang aber ausgesprochen gesittet zu, hat Schaaf bei seinen Radtouren durch den Park festgestellt. „Ich habe noch keine nennenswerten Schäden entdeckt.“ Dass der Park bis morgens um 11 Uhr total gesperrt sei, mache sich bei manchen Tieren sogar positiv bemerkbar. „Der Mäusebussard hat geschnallt, dass ihm die frei laufenden Hunde nicht mehr die Beute verscheuchen. Vor drei Tagen hatte er ein junges Kaninchen in den Fängen. Vor zwei Tagen eine dicke Ratte.“ Nicht nur für den Bussard, auch für die Nebelkrähen ist jetzt eine vierwöchige Fettlebe angesagt. Denn schon an einem ganz normalen Wochenende bei hochsommerlichen Temperaturen fällt laut Schaaf im Tiergarten beim Grillen und Picknicken so viel Müll an, dass damit acht Lkws mit Hängern gefüllt werden können.

Für die Tiergarten-Initiative Lokale Agenda 21 und den Naturschutzbund organisiert Schaaf regelmäßig Führungen. Er kennt den Bau der Fuchsfamilie, weiß, wo die drei Habichte nisten und wo der Steinmarder haust. 33 Nachtigallpaare hat er in diesem Frühjahr gezählt. Im Vorjahr waren es nur 15. Untersuchungen zufolge trällern Nachtigallen am Rand von stark befahrenen Autobahnen am lautesten. Auch Singdrossel und Rotkehlchen zeigten bislang keine Nervosität, wenn vom 17. Juni das Gegröle der Fans in die grüne Oase schallt. Selbst die Igel scheint der Rummel nicht zu stören. „Sonst würden sie sich zusammenrollen“, weiß Schaaf. Und die Maulwürfe werfen wie eh und je Erde aus ihren Löchern, wenn sie unterirdisch die Wiesen umpflügen.

Auch über die Gepflogenheiten der Zweibeiner kann der Grünflächenexperte viel erzählen. „Der Tiergarten ist in seiner Nutzung durch die Menschen weltweit einmalig.“ Was den Park im Alltag so besonders macht? Es gibt unzählige Verbote, aber keiner hält sich dran. Früh um 5 Uhr, so Schaafs Beobachtung, fängt es an: Als Erstes kommen die Angler und pflügen die Staudenrabatten nach Regenwürmern um. Ab sechs toben sich die Hunde ohne Leine aus. Dann tauchen auch die Jogger auf. Das wäre kein Thema, wenn sie sich nicht neue Pfade abseits der Wege durchs Gehölz bahnen und dabei zarte Sprösslinge niedertrampelten. Nachmittags kommen die Fuß- und Volleyballspieler. Die einen bolzen, dass die Grasbrocken nur so fliegen. Die anderen stampfen den Boden am Netz fest wie Beton. Am Ufer der Seen lassen die Modellbootbauer ihre selbst gefertigten Gefährte zu Wasser, während die Freunde der Wurf- und Schleudergeschosse sich ein paar Meter weiter im Bogenschießen erproben.

Auch die Zeit für die Musikanten ist nun gekommen. Saxofon, Dudelsack, Trompete – der Tiergarten als Übungsraum. Vor allem getrommelt werde mit großer Vorliebe laut und lange, beobachtet Schaaf zu seinem Leidwesen immer wieder. Wenn er nachts durch den Park radelt, um die Nachtigallen zu zählen, trifft er auf die Freunde des Lagerfeuers. In der Nähe der Löwenbrücke sind die Büsche in heftiger Bewegung: Auf dem Schwulenstrich herrscht reger Verkehr. Die Dealer sind im Unterholz unterwegs, und die zehn obdachlosen Stammgäste rollen sich auf ihren Parkbänken zusammen. „Ein Intellektueller hat fast ein Jahr im Rhododendronhain gelebt.“

Wenn es Schwierigkeiten gibt, regelt Schaaf die Dinge meist allein. Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig. Mitarbeiter des Ordnungsamts und Polizei sind zu nächtlicher Stunde nie im Tiergarten unterwegs. „Ich zeige nicht den erhobenen Zeigefinger, solange die Leute nichts kaputt machen und sich nicht gegenseitig stören“, so sein Prinzip.

Ein Umweltstadtrat hat Schaaf mal den Vater des Tiergartens genannt. Nein, die Väter seien Knobelsdorff, Lenné und Alverdes, wehrt er entrüstet ab. Und Seele des Parks? „Das klingt schon besser“, sagt Christoph Schaaf und schaut noch mal auf sein Dezibelmessgerät.