Wir Gefühlsdeutsche

Schwarz-Rot-Gold überall: Nicht nur Konservative reden derzeit viel über Patriotismus. Leider wissen sie selbst nicht genau, was sie damit meinen. Dabei bietet dieser Begriff derzeit wirklich eine Chance

Wenn Patriotismus bedeutet, dass jeder glauben kann, auf ihn käme es an, dann ist etwas gewonnen

VON ROBERT HABECK

Patriotismus ist ein schwieriges Wort. Es soll die Deutschen aufrichten, indem sie sich auf sich selbst besinnen. Aber schon die Wortwahl zeigt, das Konzept ist widersprüchlich. Denn was bringt die Konzentration auf „eigene Werte, die eigene Kultur und die eigene Sprache“ zustande: ein Fremdwort. Patriotismus geht auf das griechische Wort patriotes zurück, was bedeutet: „jemand, der aus demselben Geschlecht stammt“, weshalb es, patriarchalisch eingedeutscht, treffend mit Vaterlandsliebe übersetzt wird.

„Vaterlandsliebe“ aber geht selbst Frau Merkel nur schwer über die Lippen, da wird lieber ins Griechische ausgewichen, um auf das Eigene zu verweisen. Dies ist nur eine kleine Anmerkung, aber sie zielt auf das Ganze. Das Konzept des Patriotismus trägt den Widerspruch in sich: Angeblich ist Patriotismus etwas Natürliches, eine Gefühlshingabe, etwas, das alle gemeinsam haben. Die Definition aber, was das allen Gemeinsame ist, fällt schwer und gelingt auch der FDP/CDU-Rhetorik nicht. Stattdessen werden Symbole angeführt, also Ersatzhandlungen durchgeführt. Fahnen allerorten, Textsicherheit in der Nationalhymne, Deutschsprachigkeit, Gebäude, Gelübde, Gebete, Kreuze. Spätestens hier wird die Reihe beliebig. Warum nicht Weißwurst und Sauerkraut, Kaffeesahne oder VW Käfer?

Patriotismus ist eine Prophezeiung, die vorgibt, sich selbst deuten zu können, die jedoch ohne Adjektive und Attribute völlig hilflos ist. Führt man sich die gängigen erläuternden Ergänzungen zu Gemüte, wird der Widerspruch deutlich: „christlich“, „demokratisch“, „abendländisch“, „westlich“, „freiheitlich“ – sie alle passen nicht zu dem Nomen „Vaterlandsliebe“, oder was wäre denn „abendländische Vaterlandsliebe“? Deshalb wird der Begriff Leitkultur bemüht. Hier passt es einigermaßen. Patriotismus wird durch Leitkultur erläutert, Leitkultur soll Patriotismus bedingen.

Statt mit einer einheitlichen Semantik für die politische Einheit des Volkes wird also mit einem Begriffspaar operiert, das sich wechselseitig in Szene setzt, aber keinen Kern hat. Patriotismus ist kein Inhalt, sondern ein rhetorisches Konzept. Das macht den Umgang mit diesem Begriff schwer und gefährlich. Denn wer Patriotismus sagt, ist nicht zu packen. Er weicht in Attribute aus und letztlich in Formulierungen wie „Leben, aus dem, was immer gilt“ (O-Ton Merkel). Was aber gilt schon immer und unbedingt? Wohl noch nicht einmal das Gebot der Nächstenliebe. Die Phrase suggeriert die Idee einer intakten, fest gefügten Gemeinschaft.

Aber eine Gemeinschaft ist nicht zwangsläufig eine Gesellschaft. Eine Gesellschaft ist organisiert und versucht sich über ihre Organisationsformen Klarheit und Rechenschaft abzulegen. Auf die Organisationsformen der Gesellschaft, auf Demokratie, Toleranz, Minderheitenvoten etc., kann man stolz sein, denn sie sind bewusst und eingerichtet. Eine Gemeinschaft ist irgendwie völkisch, irgendwie totalitär, irgendwie ewig, irgendwie organisch, irgendwie biologisch aus einem festen Kern gewachsen. Und irgendwie hat es sie je so wenig in Reinform gegeben wie die Bedeutung des Wortes Patriotismus. Schon der Volkszug der Teutonen war ein Gemischtwarenladen unterschiedlichster Ethnien. Patriotismus in diesem Sinn ist ein Kategorienfehler, das, was man in der Philosophie einen naturalistischen Fehlschluss nennt. Die bestehende Wirklichkeit wird als gegeben angenommen. Dabei muss sie stets erneut erobert und entwickelt werden.

Der Kontext aber, in dem Merkel & Co auf den Patriotismus kommen – lässt man einmal außer Acht, dass er als rhetorisches Konzept benutzt wird, eigene Widersprüche zu übertünchen –, ist der der Gesellschaft. Was Konservative und so genannte Patrioten vielleicht meinen, wenngleich nicht oder schlecht begründen, ist, dass man ein Gefühl persönlicher Teilhabe an Systemen haben muss. Die Chance, die im Streit um diesen Begriff liegt, ist zu erkennen, dass es tatsächlich ein Desiderat des Gemeinwesens gibt. Kennedys patriotischer Satz, dass man nicht fragen soll, was der Staat für einen tun kann, sondern was man für ihn tun kann, verweist genau auf dieses Dilemma der Staatsphilosophie, die davon ausgeht, dass jeder Konflikt auf eine übergeordnete Lösung verweist, auf einen abstrakten und überindividuellen Begriff des Glücks.

Kennedy und alle diejenigen, die seinen Satz voll Inbrunst zitieren, gehen von einem überindividuellen, losgelösten und theoretischen Rechts- und Gerechtigkeitssystem aus, das an sein Ende gekommen scheint. Das Wirtschaftswachstum hat sich vom Arbeitsmarkt entkoppelt, die Finanzpolitik operiert nur noch mit theoretischen Zahlen, Einkommen wird über Kapitalflüsse erzielt, der Wert der Arbeit wird nach veralterten Maßstäben der Produktivität berechnet, während diejenigen, die völlig unproduktiv gute Ratschläge verteilen, am meisten verdienen. Keiner begreift Steuern mehr als faire Beteiligung an einem System, das Gegenseitigkeit und Solidarität begründet, sondern als Strafe, der es zu entkommen gilt.

Hier könnte der Begriff helfen, wenngleich er nichts mehr von seiner eigenen Bedeutung hat. Wenn Patriotismus heißt, raus aus der Lethargie, weg von dem Gefühl, dass alles vergeblich ist, dass die Globalisierung und die Ökonomisierung alles entscheiden, ohne dass es Akteure gäbe, die man irgendwie adressieren kann; wenn er bedeutet, dass Verhalten und Tätigkeit so definiert werden, dass sie als individuell bestehen können, dass jeder Einzelne in seinem Tun einen Wert und einen Sinn sieht, dass jeder glauben kann, auf ihn komme es an, dann wäre tatsächlich etwas gewonnen. Vielleicht nicht viel, aber es ist fraglich, ob mehr tatsächlich wünschenswert wäre.

Der Autor ist Schriftsteller und Landesvorsitzender der Grünen in Schleswig-Holstein