portrait
: Friedenspreisträger mit Melancholie

In seinem ersten Buch stand eigentlich schon alles drin. Über das Thema „Melancholie und Gesellschaft“ hat der Soziologe Wolf Lepenies 1967 promoviert, Untertitel: „Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie“. Es war eine These, die in den späten Sechzigern nicht gerade im Trend der Zeit lag. Wer den Fortschritt mit Skepsis betrachte, schrieb Lepenies über das 19. Jahrhundert und meinte wohl die Gegenwart, werde zum Außenseiter oder Verrückten gestempelt, von diesem „stupide siècle“. Heute würde man wohl sagen: vom Zeitalter des „Bullshit“.

Die Kunst, langfristige Trends von kurzfristigen Moden zu unterscheiden, hat Lepenies in seiner 15-jährigen Amtszeit als Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs kultiviert. Den Forschungsschwerpunkt „Moderne und Islam“ etablierte er 1995, lange bevor das Thema in den Fokus einer breiteren westlichen Öffentlichkeit geriet. Auch um den Dialog von Geistes- und Biowissenschaften bemühte er sich zu einem Zeitpunkt, als sich noch keine Großfeuilletonisten damit zu profilieren suchten.

Jedes Jahr lud er rund drei Dutzend neue Fellows in den noblen Villenkomplex im Berliner Grunewald, der eine geradezu klösterliche Stille ausstrahlte. Von allen universitären Lehr- und Verwaltungsaufgaben befreit, konnten sie sich dort einem Forschungsprojekt ihrer Wahl widmen. Einzige Bedingung: die Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten und der interdisziplinäre Austausch mit den anderen Fellows. Nach dem „annus mirabilis“, wie Lepenies das Jahr 1989 nannte, richtete er das Kolleg neu aus. Ursprünglich gegründet, um dem eingemauerten Westberlin intellektuellen Durchzug zu verschaffen, wurde es jetzt zu einem geistigen Brückenkopf nach Osteuropa.

In Berlin eilte ihm in seiner Zeit am Wissenschaftskolleg ein derart legendärer Ruf voraus, dass er mehrfach für den Posten des Wissenschaftssenators im Gespräch war – wobei freilich offen blieb, für welche Partei er den Sessel denn eigentlich einnehmen sollte. Auch das publizistische Engagement, auf das er sich nach seinem Abschied vom Wissenschaftskolleg 2001 verlegte, beantwortete diese Frage nicht wirklich. Einem Autorenvertrag bei der linksliberalen Süddeutschen Zeitung folgte 2004 der Wechsel zur konservativen Welt, wo er zugleich in den Aufsichtsrat der Axel Springer AG einzog.

Der Fama des fähigen Wissenschaftsorganisators hat die Zweitkarriere als Publizist allerdings eher geschadet als genutzt, und auch das Berliner Wissenschaftskolleg hat nach Lepenies’ Weggang ein wenig vom alten Glanz eingebüßt. So bleibt im Rückblick vor allem – Melancholie. RALPH BOLLMANN