Vermittlerin aus Leidenschaft


„Alle reden von Integration, aber keiner macht was.“ Ein Grund, die Sache selbst in die Hand zu nehmen? „Man muss sich nur gut organisieren“

VON MAREN MEIßNER

Neslihan Özșenler ist das, was man neudeutsch „straight“ nennt. Die 30-Jährige ist Journalistin, Stadtführerin und Sprachlehrerin zugleich. „Ich habe immer mehrere Baustellen“, sagt die Düsseldorferin. Gerade ist sie dabei, sich selbstständig zu machen – als erste „Stadtführerin für Migrantengeschichte“.

„Düsseldorf“, „Köln“, „Karneval“, „Helau“ sind die einzigen deutschen Wörter, die Neslihan Özșenler in den vergangenen zwei Stunden gesprochen hat. Sie führt eine Gruppe türkischer Gewerkschaftsmitglieder durch die Düsseldorfer Altstadt. Im schwarzen Nadelstreifenanzug steht sie vorm Rathaus, erklärt die Bedeutung des Jan-Wellem-Denkmals, unterstreicht ihren Vortrag mit vielen Gesten. Manchmal fangen ihre Zuhörer plötzlich an zu lachen. „Dann habe ich ein falsches Wort benutzt“, sagt die 30-Jährige entschuldigend und lächelt.

Auch wenn sie perfekt Türkisch spricht, ein bisschen aufgeregt ist sie immer bei ihren Stadtführungen. Özșenler bezeichnet sich mal als Deutsch-Türkin, mal als „echte Düsseldorferin“, so ganz genau weiß sie das selbst nicht. Vor über 30 Jahren kamen ihre Eltern nach Deutschland. Ihr Vater wollte eigentlich nur ein bisschen Geld verdienen, um sich später in London eine richtige Arbeit zu suchen. „Irgendwie sind meine Eltern dann aber am Rhein kleben geblieben“, sagt Neslihan Özșenler. Ihr Vater fand Arbeit als Straßenbahnfahrer, die Mutter einen Job bei der Arbeiterwohlfahrt. 1972 wurde ihr Bruder geboren, vier Jahre später kam sie in Düsseldorf zur Welt. In der Familie sprach sie Türkisch, im Kindergarten schließlich Deutsch. So fühlt sie sich heute in beiden Sprachen zu Hause.

Das Gymnasium brach sie nach der elften Klasse ab, ging für einige Monate auf eine Höhere Handelsschule. In dieser Zeit sammelte sie ihre ersten Erfahrungen beim Radio, arbeitete für den Bürgerfunk. „Da wusste ich: wenn ich groß bin, möchte ich Reporterin beim Radio werden“, sagt sie und in ihrer Stimme schwingt kindliche Begeisterung mit. Überhaupt ist Neslihan Özșenler jemand, der sich für viele Dinge begeistern kann. Nur die Schule gehörte nicht dazu. Die Handelsschule verließ sie nach kurzer Zeit, engagierte sich stärker beim Radio. „Ich habe dann angefangen, mich umzuhören, ob es auch türkische Sendungen im Bürgerfunk gibt“. Warum? „Vielleicht so ein bisschen aus Heimatgefühl“, sagt sie, lächelt und schiebt eine Haarsträhne hinters Ohr. Schließlich ist sie zwar in Deutschland aufgewachsen, sie hat aber viele Verwandte in der Türkei. „Es ist schon ein Unterschied, ob ich zum Beispiel deutsche oder türkische Musik höre. Da werden ganz andere Gefühle geweckt“, erzählt sie, und ihre Stimme klingt ein bisschen wehmütig. Schließlich fand sie eine türkische Sendung: „Radyo Merhaba“, die in Gelsenkirchen, Recklinghausen und Haltern im Bürgerfunk ausgestrahlt wird. Dort übernahm die damals 18-Jährige Moderationen und half bei der redaktionellen Arbeit.

Neben der journalistischen Arbeit entdeckte Neslihan Özșenler einen weiteren Beruf, den sie sich vorstellen konnte: Reiseleiterin. Sie absolvierte Praktika auf Mallorca und in der Türkei, ließ sich in Deutschland zur Reiseleiterin und Gästebetreuerin ausbilden. Dennoch entschied sie sich danach, doch lieber mehr beim Radio zu arbeiten. Und so begann sie im April 2001 bei der Deutschen Hörfunkakademie in Dortmund eine einjährige Ausbildung zur Journalistin für elektronische Medien. Das war ein Schritt weiter in Richtung Radioreporterin, ohne dabei den touristischen Bereich aus den Augen zu verlieren. Neslihan Özșenler kann nicht gut stillsitzen, verfolgt nie nur eine Sache, sondern immer mehrere gleichzeitig. Immer „auf der Suche nach meinem Traumberuf“, sagt sie.

Irgendwann wollte sie sich selbst und ihren Eltern beweisen, dass sie auch länger als zwei Wochen in ihrer zweiten Heimat sein könne. 2002 verbrachte sie vier Monate in Istanbul, arbeitete dort bei Radyo92nokta3. „Ich dachte, wenn meine Eltern so mutig sind, in ein anderes Land zu gehen, müsste ich das auch schaffen“, erzählt sie. Doch ihr Ausflug scheiterte an ihren Heimatgefühlen. „Ich habe Düsseldorf vermisst, die deutsche Ordnung“, erzählt sie und rollt ein bisschen selbstironisch mit den Augen. In der Türkei waren die Hierarchien nicht klar, sie durfte „alles und nichts“ machen. Überall galt sie als „almanci“, als „Deutschländerin“. Ein Begriff, der von manchen Deutsch-Türken als abwertend empfunden wird. Neslihan Özșenler macht er nichts aus. Für sie ist er Teil ihrer Identität.

Zurück in Deutschland arbeitete sie beim WDR Funkhaus Europa für die türkischen Redaktionen „Çilgin“ und „Café Alaturka“. Sie hatte erreicht, was sie sich als Jugendliche vorgenommen hatte. Noch heute ist sie dort als freie Mitarbeiterin tätig – die Erfüllung eines Jugendtraumes, zu dem ein paar weitere Träume dazugekommen sind und die sie ebenso verwirklichen möchte.

So wie sie in der Türkei immer „die Deutsche“ gerufen wird, ist sie in Deutschland oftmals „die Türkin“. Mit einer weiteren Ausbildung zur Gästeführerin in Düsseldorf, die sie im Jahre 2004 abschloss, wollte sie „sich und anderen zeigen, wie toll Düsseldorf ist“. Und musste sich gleich bei ihrer ersten Führung damit auseinander setzen, dass sie nicht von allen als „echte Düsseldorferin“ wahrgenommen wird. Es war eine Gruppe aus Bayern, Geschäftsleute. Und plötzlich bemerkte eine Teilnehmerin leutselig: „Ach, heute ohne Kopftuch?“ Özșenler musste schnell reagieren. „Heute ohne und morgen auch ohne“, lautete ihre Antwort. Neslihan Özșenler machte bei ihrer ersten Führung 40 Euro Trinkgeld. Kleine Genugtuung nach diesem Einstieg. Aber auch die Gewissheit, „dass ich als Frau mit türkischem Namen irgendwie besser sein muss“, sagt sie.

Bei der Stadtführung für die türkischen Gewerkschaftler an diesem Tag ist sie gut. Die 14 Männer hören aufmerksam zu. „Sie spricht, als wäre sie dabei gewesen, als Düsseldorf die Stadtrechte bekommen hat“, sagt einer. „Sie erzählt mit Hingabe“, ein anderer. Mit Hingabe macht Neslihan Özșenler eigentlich alles, was sie anfängt. Ihre Arbeit beim Radio, ihre Stadtführungen, einen Türkisch-Sprachkurs, den sie seit diesem Jahr gibt. „Ich vermittle eben gerne“, fasst sie zusammen. Und tatsächlich scheint das der rote Faden zu sein, der sich durch alle bisherigen Stationen ihres Berufslebens zieht. Vermitteln und immer wieder neue Dinge in Angriff nehmen, nie stehen bleiben.

Ihr bisher größtes Projekt hat sie vor einigen Monaten in Angriff genommen: ihre Existenzgründung. Der Businessplan steht, und wenn alles gut geht, kann die 30-Jährige bereits im August dieses Jahres ihre ersten Stadtführungen als „Stadtführerin für Migrantengeschichte“ anbieten. Stadtführungen, die sich an Migranten und diejenigen richten sollen, die das Düsseldorf abseits von Karneval, Kurfürst und Kö kennen lernen wollen. „Ich will den Leuten zum Beispiel auch mal zeigen, wo in Düsseldorf der erste Dönerladen stand“, erzählt Neslihan Özșenler.

Seit fast zwei Jahren recherchiert sie, spricht die Leute auf der Straße an, sammelt Informationen. Wieso gerade Migrantengeschichte? „Ich fühle mich mit den Migranten irgendwie verbunden“, sagt sie nachdenklich. „Alle reden von Integration, aber keiner macht was.“ Ein Grund also, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Neslihan Özșenler ist zuversichtlich, dass es mit der Existenzgründung klappen wird: „Man muss sich nur gut organisieren“. Und dann? Sie schmiedet schon neue Pläne. „Mein Traum ist es, ein Netzwerk von Stadtführern aus unterschiedlichen Ländern aufzubauen, eine Stadtführer-Agentur.“ Ihren Traumberuf scheint sie gefunden zu haben. Ihre grünen Augen leuchten.