Jacques trainiert fürs Leben

Für Jacques Bouchoucha ist Basketball mehr als ein Spiel. Für ihn ist es das halbe Leben. Und eine Möglichkeit, Kreuzberger Kinder von der Straße zu holen. Die Jugendlichen lieben ihren Trainer. Weil sie in der Sporthalle mehr lernen als nur Dribbeln

„Ich bin sauer, wenn ihr vor der Glotze sitzt und in die Breite geht! Verstanden?“

von HANS W. KORFMANN

„Wenn du noch einmal lachst, dann musst du mir erklären, warum“, sagt Jacques zu dem kleinen Jungen, der leise kichert. Und dann, weil Jacques sich ein bisschen zu streng vorgekommen ist, fügt er hinzu: „Ich will nämlich auch mal wieder lachen.“ Keiner der Zuhörer, die um ihren Trainer herum auf dem Boden sitzen, wagt einen Ton. Nirgendwo in der Dieffenbachstraße ist es so still wie jetzt in der Turnhalle der Lemgo-Grundschule.

„Zu den Sportstätten“ steht auf einem Pfeil an den Treppen, und dann geht es hinunter durch ein Labyrinth aus unterirdischen Gängen, bis man in einer der drei Hallen steht. Da spielen sie alle nebeneinander, die Kleinen, die etwas Größeren, und diejenigen, die täglich zwei Stunden trainieren und am Wochenende ihren Einsatz in der Liga haben.

„Das ist kein Spielplatz hier“, sagt Jacques Bouchoucha zu den Kleinsten, und meint es ernst. Für ihn ist Basketball mehr als ein Spiel. Für ihn ist es das halbe Leben. Er warf schon nach den Körben, als er noch in dieser großen Stadt am Meer wohnte. Als er noch ein kleiner Junge in Tunis war. Zuerst spielte er auf dem Platz vor dem Haus, später in der Halle und im Verein. Basketball war ein Weg, der von der Straße wegführte. Deshalb suchte sich Jacques, als er 1970 nach Stuttgart kam, zuerst einen Verein. Er fand einen, gleich am ersten Tag.

„Wir müssen die Jugendlichen von der Straße holen“, sagt Jacques. Dort schien auch sein Sohn zu landen, als dessen Trainer in Charlottenburg seinen Job aufgab und die zwölf jungen Korbjäger auf der Straße standen. Da suchte sich Jacques den Berliner Turnverein und sagte: „Ich bin Basketballtrainer und möchte eine Gruppe für Jugendliche aufmachen.“ Jetzt spielen etwa 100 Jugendliche beim Berliner Turnverein Basketball. Aber es sind immer noch zu wenig. Die Kassen sind leer, und die Sportler wollen auf Reisen gehen, sie wollen Turniere spielen, sie brauchen Trikots und Trainer. Deshalb redet Jacques jetzt immer häufiger vom Geld.

Selbst beim Treffen der Trainer, die gerade über ihre Teams in der Oberliga, der Bezirksliga, der Kreisliga sprechen, zieht Jacques seine große Schirmmütze noch etwas tiefer ins Gesicht als sonst und sagt plötzlich: „Es tut mir leid, wenn ich jetzt eure wichtige Diskussion unterbreche, aber ich muss immer darüber nachdenken, wie wir zu Geld kommen.“ Dann erzählt er von seinen Ideen, Sponsoren zu finden, neue Mitglieder anzuwerben. Die Beiträge sind niedrig, in anderen Bezirken der Stadt zahlen die jungen Basketballer 250 Euro im Jahr. Doch mehr als 13,50 Euro im Monat sind eben nicht drin in einem Bezirk wie Kreuzberg. „Wir brauchen“, sagt Jacques, „einfach mehr Kinder. Wir müssen in die Offensive gehen. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Jacques’ Sätze kommen schnell und kurz, manchmal wechseln sie unerwartet die Richtung, wie der Spieler beim Dribbeln. Wenn man nicht aufpasst, ist Jacques schon vorbei.

Auch deshalb ist es still in der Turnhalle, wenn er spricht. Er sagt: „Dass einer kommt und geht, wann er will, das will ich nicht. Das ist kein Kindergarten hier. Wer fehlt?“ Später, als Mohammed mit den 15 Kids durch die Halle sprintet und sie für das Training aufwärmt, setzt Jacques sich auf die Bank, schreibt eine Viertelstunde lang fein säuberlich etwas auf ein Blatt Papier und schneidet dann mit der Schere 30 kleine Streifen heraus. Die überreicht er seinen Schützlingen: „Ich will, dass ihr zum Training kommt. Ich bin sauer, wenn ihr vor der Glotze sitzt und in die Breite geht! Verstanden? Hier ist meine Telefonnummer. Die hängt ihr über euren Schreibtisch an die Wand. Und wenn ihr nicht kommen könnt, weil ihr zu viel Schulaufgaben habt oder krank seid, dann möchte ich, dass ihr mich anruft. Ihr! Nicht eure Eltern!“

Dann rennen alle in einem Affentempo in die Umkleide und verstauen die Papierstreifen irgendwo dort, wo sie hoffentlich nicht verloren gehen. Und wenn sie wieder alle um ihn herumsitzen, fragt er: „Na, hab ich gut geschimpft?“ Und muss ein bisschen grinsen dabei. Die Kinder sehen es, aber ihre Mienen bleiben ernst. Er würde nur wieder fragen, was es zu Grinsen gibt.

Jacques ist streng, aber sie kommen gern. Der kleine Hendrik mit seinem blonden Haarschopf, Louis mit dem krausen Wuschelkopf und Patrick mit seinem T-Shirt von den Chicago Bulls. Jasper, Frank, Serdar, Aganem, Douschka … . Beim Training warten sie auf die letzten zwanzig Minuten. Dann werden sie spielen, wie immer. Endlich Bälle in den Korb legen. Das Spiel ist der Lohn für die Arbeit, für 100 Minuten Laufübungen, Schrittezählen, Dribbeln, Werfen mit Links, Vortäuschen … „Beim Dribbeln den Ball nicht ansehen“, ruft der Trainer, „immer den Korb im einen Auge, im andern den Gegner … Nicht so ernst, mein Freund, immer lächeln …“ Jacques muss zur Seite blicken, damit Kinder nicht sehen, dass er wieder grinsen muss.

Julian sitzt auf der Bank. Er ist zehn, er spielt in der U14, der Gruppe der Unter-Vierzehnjährigen. Manchmal schaut er denen von der U18 zu. „Da sind schon ganz schön heiße Jungs dabei“, sagt Julian. Früher hat er Selbstverteidigung und Capoeira gemacht, aber das war irgendwie nicht das Richtige. Das Richtige ist Basketball bei Jacques.

Vielleicht, weil Jacques nicht nur das Spiel ernst nimmt, sondern auch die Spieler. Weil er sagt: „Diese überbehüteten Kinder, aus denen wird nix. Man muss die Kinder loslassen – und begleiten.“ Man muss sie an einer unsichtbaren Leine laufen lassen. Wenn Jacques das sagt, dann spricht er nicht vom Training. Er spricht vom Leben. Auch wenn er im Training genau das macht: Er lässt sie laufen. Täuschen. Springen. Und begleitet sie dabei mit Argusaugen, bis er ruft: „Stopp! Stopp! Stopp!“

Dann bleibt das Bild der zwanzig durch die Halle wirbelnden Kinder abrupt stehen. Louis hat einen Fehler gemacht, aber Jacques schaut ihn nicht ein einziges Mal an während seiner Predigt, er sieht alle an, er nimmt den Ball und zeigt, wie man es macht, aber plötzlich dreht er sich um und sieht Louis so tief in die Augen, dass dem Jungen die Schamröte in die Backen steigt.

Der Druck ist groß. Sie mögen ihren Trainer trotzdem. Sie wissen, er bringt sie weiter. Er bringt sie dahin, wo die von der U 20 jetzt stehen, in die Bezirksliga. Oder in die Oberliga. Mit Jacques werden auch sie so große, schlaksige Gestalten werden wie die nebenan. Und mit ihm werden vielleicht auch sie eines Tages nach Tunesien fahren, wo Jacques sein großes Haus hat, wo er für sie Turniere organisiert gegen die Spieler von Tunis. Jedes Jahr.

Die Großen nebenan sind siebzehn oder achtzehn, ihre Eltern sprachen einmal verschiedene Sprachen, aber ihre Kinder stehen fast alle vor dem Abitur. „Das ist kein Zufall, dass die auch gut in der Schule sind“, sagt ihr Trainer Christoph. Basketball sei eben mehr als nur mit einem Ball vor dem Fuß auf ein Tor zuzurennen. Schon das Vokabular ist schwierig, es gibt den Überkopfpass, Facing, Powermovebewegung … – wer neu einsteigt, braucht ein Wörterbuch. Aber trotzdem schaffen sie das, egal, ob sie zu Hause türkisch sprechen oder vietnamesisch, in drei, vier Jahren sind sie spielreif. Und wenn sie ein wenig mehr Zeit hätten, ginge es noch schneller.

Doch seit dieser idiotischen Pisastudie bürdet man den Kindern noch mehr Hausaufgaben auf. Immer öfter heißt die Entschuldigung „Mathe“ oder „Englisch“. Also hat Jacques beschlossen, seinen Schützlingen bei den Hausaufgaben zu helfen. Platz hat er genug, er ist der Wirt des „Maison Blanche“ in der Körtestraße. Im Sommer kommen sie nach dem Training sowieso bei ihm vorbei. Sie könnten aber auch vor dem Training kommen und ihre Aufgaben dort machen – mit dem Beistand des Basketballtrainers. Dann wären sie wenigstens pünktlich fertig. „Und wenn wir das mit der Hausaufgabenbetreuung organisieren, dann kapieren vielleicht auch die Eltern, dass das kein Spiel ist hier. Sondern dass wir uns um den Werdegang ihrer Kinder kümmern.“ Sagt Jacques und zieht die Schirmmütze wieder höher.