Die chilenische Schülerrevolte ist noch nicht zu Ende

Nach wochenlangen Streiks füllten sich die Klassenzimmer in Chile gestern wieder. Wie das Entgegenkommen von Präsidentin Bachelet umzusetzen ist, wird heute erstmals in einem Gremium verhandelt. Ohne einen „tief greifenden Wandel“ jedoch wollen die Schüler wieder auf die Straße gehen

Die SchülerInnen sind gestern in Chiles Klassenzimmer zurückgekehrt. Nach einem Entgegenkommen der Regierung setzen sie ihre wochenlangen Streiks und Proteste aus. „Wir geben die Schulen zurück, aber wir bleiben mobilisiert“, stellte Schülersprecher Juan Carlos Herrera klar.

Die Proteste, an denen sich zeitweilig bis zu 800.000 Schüler beteiligten, haben unverhofft frischen Wind in die erstarrte politische Landschaft der Nach-Pinochet-Ära gebracht. „Zum ersten Mal konzentriert sich die Debatte in Chile auf die Bildung“, sagte der frühere Bildungsminister Sergio Bittar erfreut. Präsidentin Michelle Bachelet habe nun größere Zugeständnisse gemacht als alle ihre Vorgänger: „Ich musste drei Jahre lang darum kämpfen, bis die Kosten für die Zulassungsprüfung an die Universität 20.000 Schülern erlassen wurden statt 3.000 – jetzt sind es über 100.000.“ Ähnlich verhalte es sich bei den Zuschüssen zum Schulessen und den Fahrtkosten.

Doch der Knackpunkt, das räumt auch der Politiker ein, ist eine gründliche Reform des seit der Diktatur immer weiter privatisierten Bildungswesens. Den besten Ruf haben die 930 Privatschulen, an denen das monatliche Schulgeld umgerechnet mindestens 220 Euro beträgt – nur 8 Prozent aller SchülerInnen haben Eltern, die sich das leisten können. Die große Mehrheit verteilt sich hingegen auf Staats- und subventionierte Privatschulen, denen der Staat gerade 44 Euro pro Nase und Monat zuschießt. Dort ist das Niveau, da sind sich alle einig, miserabel.

Was der deutsche Pisa-Koordinator Andreas Schleicher über Chile sagt, erinnert an die deutschen Ergebnisse: Das derzeitige chilenische Schulsystem zementiere die sozialen Unterschiede. Nur: Die Schere zwischen Arm und Reich ist in dem südamerikanischen Land um ein Vielfaches größer. Der Einfluss des familiären Hintergrunds auf Erfolg und Misserfolg in der Schule nehme in Chile zu – im Gegensatz zu den erfolgreichen Reformländern wie Finnland oder Kanada.

Der als Reaktion auf die Proteste gebildete 73-köpfige Bildungsrat, der heute zum ersten Mal zusammentritt, soll eine Schlüsselrolle bei der Reform des noch von Pinochet unterzeichneten Bildungsgesetzes spielen. Um der als neoliberal geltenden Mehrheit des Gremiums etwas entgegensetzen zu können, wollen die 12 OberschülerInnen und Studierenden, die dort vertreten sind, mit einer Stimme sprechen. Mit Lehrern, Elternvertretern und sozialen Organisationen haben sie sich zu einem „alternativen Forum“ zusammengeschlossen, wo ihre Argumentation abgestimmt werden soll.

So scheint die Bildungsreform zur Nagelprobe für die Präsidentin Bachelet zu werden, die beim versprochenen Übergang zu einer sozialen Demokratie nicht mit den SchülerInnen gerechnet hatte.

„Diese Bewegung ist auch ein Ausdruck des tiefen Misstrauens gegenüber den Institutionen, der umzäunten, begrenzten und bevormundeten Demokratie“, meint Jorge Arrate, der Minister unter Salvador Allende in den Siebzigerjahren war. „Es ist die erste Bewegung der Kinder der Demokratie, die die Merkantilisierung der Gesellschaft ablehnen.“

Und die lassen nicht locker. Wenn sich kein „tief greifender Wandel“ abzeichnen sollte, sagt Schülersprecher Juan Carlos Herrera, sei ein Rückzug aus dem Bildungsrat ebenso denkbar wie neue Proteste. GERHARD DILGER