Das Bier der Gerechten

DAS SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Kaiserin Sissi hatte überhaupt nichts gegen den Geist Heinrich Heines, im Gegenteil

Auf Rügen trinken sie Störtebeker-Pils. „Das Bier der Gerechten“. Guter Name. Man fragt sich aber, woher eigentlich der Ausruf kommt: Das ist nicht mein Bier! Der Düsseldorfer Oberbürgermeister hat also Post von Peter Handke bekommen. In einer Woche, am 22. Juni, wollte sich der Rat der Stadt Düsseldorf doch noch einmal treffen. Extra wegen ihm. Nicht mehr nötig, schrieb Handke nun dem Bürgermeister. Und er solle am 22. seine „Stadträte an die frische Luft entlassen, z. B. zu einem Picknick am Rhein“. Keine schlechte Idee. Aber Kölsch können sie da schon mal nicht trinken, nicht in Düsseldorf. Vielleicht Störtebeker-Pils?

Sissi ist einst der Geist Heines erschienen. Im vom Mondlicht durchfluteten Zimmer stand er plötzlich vor ihrem Bett. „Der Kampf dauerte nur Minuten“, berichtete die Kaiserin von Österreich ihrer Tochter, der Erzherzogin Valerie. Dann verschwand der Geist wieder, „und trotz der Enttäuschung, dass ich am Leben blieb, war ich glücklich …“ Sissi hatte nämlich überhaupt nichts gegen den Geist Heines, im Gegenteil, sie war auch völlig unbesucht der Meinung, dass ihr Geist ein Teil von Heines Geist sei oder Heines Geist ein Teil von ihrem.

Wer kann das so genau wissen? Der Kaiser von Österreich, Franz Josef I., beobachtete nicht nur diese Überzeugung seiner Frau mit tiefer Sorge. Er soll in seinem ganzen Leben nur ein einziges Buch gelesen haben – den „Führer der militärischen Ränge“, und auch das nur einmal. Sissi dagegen las das „Buch der Lieder“. Mehrmals. Deshalb lernte sie auch irgendwann einen Vorgänger des heutigen Heinrich-Heine-Preis-Jury-Vorsitzenden kennen. Der Jury-Vorsitzende ist nämlich niemand anderes als der Düsseldorfer Oberbürgermeister. Seinen Vor-Vor-…Vorgänger überraschte Sissi mit der Idee, der Stadt Düsseldorf einen Heine-Marmorbrunnen zu schenken.

Die Wirkung muss man sich ungefähr so vorstellen, als hätte jemand dieser Tage vorgeschlagen, in Düsseldorf ein Peter-Handke-Denkmal aufzustellen. Dabei war Sissi so kompromissbereit. Sie willigte ein, oben auf den Springbrunnen statt Heine selbst die Loreley zu setzen.

Nach sieben Jahren, 1897, gerade rechtzeitig zu Heines 100. Geburtstag, war der Brunnen fertig. Die Düsseldorfer besahen den Brunnen, die Loreley oben und alle drei Meerjungfrauen weiter unten. Schließlich entdeckten sie auf der Säule ein kleines Heine-Relief und kamen zu dem Schluss, dass es sich bei diesem Brunnen um eine besonders gut getarnte antideutsche Verschwörung handelte. Sissi bot den Brunnen anderen Heine-Städten an: Frankfurt, Hamburg, Berlin. Lieber nicht, schüttelten die Städte ihre Köpfe und wollten keinen vaterlandslosen Judenbrunnen.

Da meldete sich New York und die Loreley reiste in 64 Kisten zur Plaza Square an der Fifth Avenue. Was?, riefen dort ein paar erbitterte deutsche New Yorker, bei uns? Heine? Mitten im Zentrum? Niemals! Und so verschlug es die Loreley vom Rhein am Ende in die Grand Concourse, Ecke 164. Straße. Das ist mitten in der Bronx. Dort kämmt sie noch heute ihr marmornes Haar.

Es war eben noch nie leicht, ein Denkmal zu errichten. Oder einen Preis zu vergeben. Das muss die Düsseldorfer Stadträte doch trösten, wenn sie am 22. an den Ufern des Rheins beim Handke-Picknick sitzen und Störtebeker-Pils trinken. (Heine: „Ihr habt den Rhein. Wascht Euch!“) Dann werden sie sich auch daran erinnern, wie lange sie gezögert haben, ihre Heinrich-Heine-Allee Heinrich-Heine-Allee zu nennen. Am längsten hat die Düsseldorfer Universität durchgehalten. Immer wieder hat sie sich geweigert, Heinrich- Heine-Universität heißen zu müssen. Erst 1988 (!) hat sie aufgegeben.

Man fühlt sich einfach nicht gut, wenn alle einen angucken, als sei man aussätzig. Die beiden H’s sind da überhaupt kein Maßstab. Heine und Handke haben sich von Anfang an für das Berufsrisiko entschieden, dass keiner sie versteht. Und sie haben das so konsequent durchgehalten, dass die Umwelt gar nicht mehr recht wusste, worüber sie sich mehr ärgern sollte: über ihre Ansichten oder darüber, dass sie ihre Ansichten nicht widerriefen. Als ob es keine erdrückenden Mehrheiten gäbe!

Und dabei dieses Einsamkeitspathos des Erkennens! „Überall, wo ein großer Geist seinen Gedanken ausspricht, ist Golgatha.“ Soll heißen: Der wahrhaft Wissende wird überall gekreuzigt. Handke? Heine! Und dieser Verehrer der Menschenrechte war nicht einmal Demokrat, er war Monarchist. Aus Misstrauen gegen die Berufs-Demokraten und den großen „Freiheitsstall der Gleichheitsflegel“. Handke? Heine! Heine hätte Handkes Betrachtung der Fragezeichen verstanden. Handke: „In uns die Fragezeichen sind heutzutage krank. Sie sind in den Kopf gewandert. Sie können keine richtigen Fragen mehr bilden.“ Heine und Handke bildeten Fragen aus tieferen Schichten ihres Seins.

Sie haben gemeinsam die merkwürdige Nah-Ferne einer Herkunft, die zur geheimen Matrix ihres Werks wird. Heine, der Deutsche mit den jüdischen Wurzeln. Handke, der Österreicher mit den slowenischen Wurzeln. Sie sind längst Abgenabelte, die sich noch einmal vernabeln. Zwanghaft-freiwillig. Geradezu schicksalshaft-freiwillig. Solidarität ist etwas, das wir alle haben, insofern wir gutwillige Zeitgenossen sind, glauben wir gutwilligen Zeitgenossen. Heine und Handke wissen es besser. Man schaut anders, wenn man dazugehört. Menschliche Solidarität ist nichts Allgemeines, sie kommt aus einem Näheverhältnis.

„Überall, wo ein großer Geist seinen Gedanken ausspricht,ist Golgatha“

Handke und Heine. Das Leichte und das Schwere. Darin unterscheiden sie sich dann doch. Der eine machte die Sprache leicht – vieldeutig auch – im Dienste seiner Wahrheit. Der andere macht sie wieder schwer. Ist sie nicht zu leicht und eindeutig geworden inzwischen?

Das Bier der Gerechten. Das ganze Land hat sich gerade wieder einmal daran betrunken. Sloterdijk hat Recht: Nationen heute existieren vor allem als Erregungsgemeinschaften, als Panikkommunen. Interessant ist: auch als Erregungsgemeinschaft ist noch nicht ganz zusammengewachsen, was zusammengehört. Was für ein merkwürdiges Ost-West-Gefälle. Wer weiß, was soll es bedeuten? Ganz einfach, denken die Allgemeinen im Geiste, im Osten mögen sie Diktatoren, also mögen sie auch Leute, die zur Beerdigung von Diktatoren gehen. Und war der Osten nicht ohnehin gegen den Jugoslawienkrieg? Aber vielleicht haben wir nur verschiedene Erfahrungen gemacht. Wenn es gegen einen einzelnen Schriftsteller geht, auf der Seite der Wächter zu sein, ist undenkbar. Vom ersten Impuls her und DDR-historisch gesehen. Noch so eine seltsam irrationale Solidarität am Grunde. Und dazu dieses Gefühl, dass man zuletzt doch nur Einzelnen trauen kann. Den nicht ganz Zeitgemäßen, den nie ganz Verrechenbaren, die alle Seiten Verräter nennen. Solchen wie Heine. Solchen wie Handke?

Vielleicht sollten sie am 22. an den Ufern des Rheins nicht zu viel Störtebeker-Pils trinken. Sonst geht es dem Düsseldorfer Stadtrat wie Sissi und der Geist Heines tritt unter sie. Und was sollen sie ihm dann sagen?