Pflege verletzt Rechte

Deutsches Institut für Menschenrechte erkennt schwere Mängel im Pflegebetrieb. Ein Drittel der Betreuten hat zu wenig zu essen und zu trinken

„Die Mängel sind so, dass wir von Menschenrechtsver-letzungen ausgehen“

VON ANNA LEHMANN

In Deutschland ist eine menschenwürdige und flächendeckende Grundversorgung von Pflegebedürftigen nicht gewährleistet. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIM) heute vorstellt. Das Institut, 2001 auf Empfehlung des Deutschen Bundestags gegründet, informiert über Menschenrechtsverletzungen. Valentin Aichele, Mitautor der Studie zur Situation der Pflegebedürftigen, geht davon aus, dass die Rechte hinfälliger alter Menschen, die in Heimen und zu Hause betreut werden, latent bedroht sind: „Es gibt so gravierende Mängel bei der Pflege, dass wir davon ausgehen, dass es zu Menschenrechtsverletzungen kommt.“

Der Studie zufolge, die der taz vorliegt, erhalten über 380.000 Pflegebedürftige nicht hinreichend zu essen und zu trinken. Das sind ein Drittel aller Menschen, die in Pflegeheimen untergebracht sind oder Besuch von ambulanten Diensten erhalten. Knapp die Hälfte von ihnen – 440.000 Menschen – drohen wund zu liegen oder haben Druckgeschwüre. Dabei sind sich Experten einig, dass Wundliegen bei richtiger fachlicher Pflege meistens vermieden werden kann. Von den Heimbewohnern wird jeder Fünfte nur ungenügend wegen Blasenschwäche versorgt. Bei den Pflegebedürftigen, die zu Hause wohnen, ist jeder Vierte betroffen.

Die Studie stützt sich auf die Daten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen – der Aufsicht für Heime und Krankenhäuser – aus dem Jahre 2004. Nach Ansicht Aicheles handelt es sich nicht um vorübergehende Probleme: „Die Mängel betreffen so viele Personen und so wesentliche Bereiche der Pflege, dass man davon ausgehen muss, dass sie strukturbedingt sind.“ Der Fehler liegt also im System.

Die Autoren raten dazu, Pflegeheime häufiger und vor allem unangemeldet zu kontrollieren. Von der Bundesregierung fordert das DIM, dass diese einheitliche Qualitätsstandards vorgibt, denn nur die Hälfte der Pflegebedürftigen wird den Daten zufolge nach fachgerechten Konzepten versorgt. Weiterhin fordern die Wissenschaftler mehr Transparenz, denn die Heime öffnen ihre Akten lediglich für die Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes, und das nur unwillig.

Hendrik Haselmann vom Medizinischen Dienst Berlin-Brandenburg möchte nicht von strukturellen Defiziten sprechen, räumt aber ein: „Wir stellen in Einzelfällen schon schwerwiegende Mängel fest.“ Unangemeldete Besuche findet er unzweckmäßig: „Es ist nicht möglich, wund gelegene Stellen innerhalb von zwei Tagen auszukurieren.“

Dagegen sieht die Vorsitzende des Berufsverbandes für Altenpflege, Christina Kaleve, systematischen Nachholbedarf im Pflegebereich. Etwa ein Drittel der Einrichtungen rechnet sie zu den schwarzen Schafen. Notwendig sei auch mehr Geld für die Pflegekassen. Im letzten Jahr flossen 17 Milliarden Euro in den Pflegebereich. Dass diese Summe auf Dauer nicht reicht, legen demographische Prognosen nahe: 2030 wird jeder Dritte Bürger Pflege brauchen, schätzt das Gesundheitsministerium.