Stürmung des gallischen Dorfes

BRASILIEN Die Bewohner einer Siedlung neben dem WM-Stadion Maracanã werden von der Polizei gewaltsam vertrieben, obwohl Politiker derlei Pläne zuletzt dementiert hatten

„Es geht nur ums Geld, und der Fußball soll in ein Kommerzspektakel für die Reichen verwandelt werden“

GUSTAVO MEHL VOM KOMITEE GEGEN DIE WM UND OLYMPIA

AUS RIO DE JANEIRO ANDREAS BEHN

Wie die Gallier widersetzten sich die rund 50 Besetzter den Räumungen und Privatisierungen im Zuge der Fußball-WM. Lange Zeit unbeachtet, wurde die „Aldeia Maracanã“ – das Maracanã-Dorf unmittelbar neben dem gleichnamigen Stadion – zu einem Ort des Widerstands. Am Montag wurden die Besetzer mit einem brutalen Polizeieinsatz vertrieben.

Frühmorgens umstellten 150 Uniformierte der berüchtigten Sondereinheit das Gelände. Als die Bewohner sich wehrten, setzte die Polizei Pfefferspray ein, es kam zu Tumulten. 26 Besetzer wurden festgenommen, die übrigen verließen schließlich freiwillig ihr Dorf. „Es ist eine Schande, hier leben Schwangere und Kinder. Wir sollen einfach nur weg wegen dieser Weltmeisterschaft. Ich habe nichts gegen Fußball, aber der Preis, den wir dafür zahlen, ist viel zu hoch“, beschwerte sich die Lehrerin Mónica Lima. Sie wohnt seit Monaten in dem Dorf. Vor der Polizeiabsperrung verspricht sie, dass der Widerstand weitergehen wird.

Am Tag zuvor hatten die Indígenas ein Nebengebäude besetzt. Sie wollten verhindern, dass es abgerissen wird, um Platz für weitere Bauten des Maracanã-Komplexes zu schaffen. Dies war der Anlass der überraschenden Räumung des gesamten Areals.

Gleich nach der Räumung versprach Gouverneur Sergio Cabral, dass das Gebäude des ehemaligen Indianermuseums nicht abgerissen werde. Es solle renoviert und später in ein „Indigenes Kulturzentrum“ verwandelt werden. Das Nebengebäude wird allerdings sofort abgerissen. Dort, so der Gouverneur, werde nach der WM das neue Fußballmuseum Brasiliens eingerichtet.

Die ehemaligen Bewohner des Maracanã-Dorfes halten dies für eine weitere Lüge des Regenten von Rio de Janeiro, der seit den Massendemonstrationen im Juni zu einem der unbeliebtesten Politiker Brasiliens wurde. „Cabral hat noch nie Wort gehalten. Noch vor drei Monaten hat er bei einem Treffen mit der Anti-WM-Bewegung versprochen, dass das Dorf nicht geräumt wird,“ sagt Gustavo Mehl vom Komitee gegen die WM und Olympia.

Damals war der Druck der landesweiten Protestbewegung so groß geworden, dass Cabral Zugeständnisse machen musste. Er erklärte, dass weder die Aldeia-Maracanã noch eine Schule und weitere Sportstätten im Umfeld des Stadions abgerissen würden. Ursprünglich sollten dort Parkplätze und ein Shoppingzentrum entstehen, um den Investoren des kürzlich privatisierten Maracanã-Stadions entgegenzukommen.

„Es geht nur ums Geld, und der Fußball soll in ein Kommerzspektakel für die Reichen verwandelt werden“, beklagt Mehl. Die Fans und ihre Fankultur seien nicht mehr erwünscht. Sie könnten die hohen Eintrittspreise gar nicht mehr bezahlen. Schon jetzt finden die meisten Liga-Spiele vor gähnend leeren Rängen statt. Nur eine Kurve füllt sich mit organisierten Fans, angelockt von Billigtickets. „Das ist notwendig, weil man im Fernsehen sehen soll, dass der Fußball immer noch ein Fest ist,“ sagt Mehl.

Vor der imposanten Ruine des einstigen Indianermuseums stehen jetzt Absperrgitter. Das Gebäude wurde vor 147 Jahren errichtet. Zuerst beherbergte es die Indígena-Behörde, 1953 wurde es auf Initiative des Anthropologen Darcy Ribeiro und von Aktivisten mehrerer brasilianischer Ethnien Sitz des Indígena-Museums. Seit 1977 war das Gelände ungenutzt, nachdem das Museum umgezogen und als eher folkloristische Einrichtung an Bedeutung verloren hatte.

2006 kehrten Indigene in das Gebäude zurück. Die Besetzung sollte auch darauf aufmerksam machen, dass Kaiowá, Guarani oder Tupinambá im urbanen Brasilien keinen Platz zum Leben haben. Als Rio de Janeiro für die WM herausgeputzt werden sollte, waren sie mal wieder im Weg. Im März kam es zu einer ersten Räumung, die Menschenrechtsorganisationen vor Gericht rückgängig machen konnten. Dieses Mal wird es wohl schwieriger werden.