Verschwenden und verwenden

Tanzen, reden, trinken und dabei temporäre Installation erzeugen: Martin Kippenberger lebte heftig und starb früh. Davon zehrt Jörg Kobel in seiner Dokumentation „Kippenberger – Der Film“. Er entwirft das Porträt eines Künstlers, dessen Leben nur darauf zu warten schien, verfilmt zu werden

Videofootage aus dem Berlin der 70er- und dem Köln der 80er-Jahre belegt die sozialdynamische Wirbelwirkung Kippenbergers

von TOM HOLERT

Der Sammler geht in seine Garage und schiebt mit Leibeskräften einen alten Ford Capri auf den Hof. In den 1970er-Jahren war der Capri der Sportwagen für Leute, die keinen echten Sportwagen, keinen Porsche, keinen Ford Mustang, bezahlen konnten. Dieses Exemplar des Ersatz-Schlittens jedoch hätte die angestammte Kundschaft kaum begeistert. Es ist mit unappetitlich stumpfer Rost- oder Wurstfarbe bemalt, in die Haferflocken gemischt wurden. Der Sammler zeigt sich stolz auf sein hässliches Auto und dessen „Materialästhetik“. Denn der Capri war ein Lieblingsmodell des Künstlers Martin Kippenberger. Der besaß zwar keinen Führerschein und durfte allenfalls ein motorisiertes Vespa-Dreirad mit einem riesigen Ei auf der Ladefläche über österreichische Alpenstraßen bugsieren. Aber der Capri taucht in zahllosen seiner Bilder auf, 1982 überarbeitete er ihn gemeinsam mit Malerfreund Albert Oehlen. Seither trägt der Möchtegern-Sportwagen den Titel „Capri bei Nacht“ und ist als Kunstwerk anzusehen.

Freunde des Werks von Martin Kippenberger erleben solche Szenen aus der Sammlergarage vielleicht als Offenbarung. Denn wer von ihnen hätte schon gewusst, wo sich dieses Auto heute befindet, ein knappes Vierteljahrhundert später? Der Filmemacher Jörg Kobel hat für seine Dokumentation „Kippenberger – Der Film“ viele Einblicke dieser Art zusammengetragen. Interviews und Originalfilmmaterial montierte er so, dass das chronologisch angelegte Porträt eines Künstlers entsteht, dessen Leben nur darauf wartet, verfilmt zu werden – demnächst vielleicht in einem Biopic aus Hollywood.

Kobels Film, der erstmals im Oktober 2005 auf der KunstFilmBiennale in Köln vorgestellt wurde und jetzt – anlässlich einer großen Kippenberger-Retrospektive im Düsseldorfer Museum K21 – in ausgewählten Kinos zu sehen sein wird, liefert wertvolles Basismaterial für einen solchen noch zu drehenden Spielfilm über die Cinemascope-Biografie dieses Künstlers. Kippenbergers Leben verlief heftig, und es war kurz nach heutigen Maßstäben. Er starb 1997, mit 44, nicht lange nachdem er zwei große Ausstellungen in Mönchengladbach und in Genf eröffnet hatte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Anzeichen eines nahenden Todes bereits unverkennbar. Elfi Semotan, eine österreichische Fotografin und Kippenbergers Witwe, zeigt dem Filmemacher im einstigen Atelier des Künstlers den Abzug eines der Fotos, das sie 1996 von ihrem Mann gemacht hat. Kippenberger arbeitete gegen Ende seines Lebens an einem Zyklus von Gemälden mit Variationen über Géricaults „Floß der Medusa“. Dabei offenbarte er schonungslos das Bild des eigenen verfallenden Körpers und einer nagenden Todeserwartung.

Das Bild von Elfie Semotan, die den zerknitterten Print des Fotos ihres Mannes in Händen hält, ist ein erschütternd trauriger Moment in Kobels Film. In ihm kommt die Aneinanderreihung von Indizien einer maßlosen Selbstverschwendung zu einem Halt. Denn „Leben und Werk“ gingen bei Kippenberger, daran lässt Kobels Film keinen Zweifel, stufenlos ineinander über. Der Künstler stellte sich selbst als Person in den Dienst eines Werks, das, so lässt sich mittlerweile sagen, wiederum auf die lebende, leibhaftige Person weniger angewiesen zu sein scheint, als immer wieder gemutmaßt wurde. Trotzdem ist „Kippenberger – Der Film“ vor allem ein Film darüber, was es heißt, sich selbst – als Künstler – der Aufmerksamkeit der eigenen Entourage, aber auch einer größeren Öffentlichkeit permanent zur Verfügung zu stellen, das heißt: zum Filmstoff zu werden.

Nicht sonderlich überraschend, in Kippenbergers Fall, gibt es im Unterschied zu den traurigen Momenten der Erinnerung an einen toten Ehemann oder Freund auch viele sehr lustige oder zumindest ambivalente Momente. Video-Footage aus dem SO36 und dem „Büro Kippenberger“ im Berlin der späten 1970er-Jahre oder aus dem Café Central im Köln der 1980er-Jahre können als Belege für die sozialdynamische Wirbelwirkung dieses Mannes gelten. Stets übernahm Kippenberger in den Öffentlichkeiten und Halböffentlichkeiten, die er aufsuchte oder gleich selber herstellte, die Rolle des Gastgebers, Raconteurs und Impresarios, kuratierte Musikprogramme und temporäre Installationen aus dem Ärmel, wollte tanzen, reden und trinken. Indem er den Materialbegriff der Kunst sehr weit fasste, habe Kippenberger an und über den Grenzen unterschiedlicher kultureller Systeme operiert, erklärt Diedrich Diederichsen.

Scheinbar beiläufig, in Wirklichkeit aber dem Prinzip des unaufhörlichen Gebrauchs des Sozialen als Material für seine Nonstop-Produktion in allen möglichen Medien verpflichtet, setzte er Maßstäbe der Eleganz und Selbstdistanz mit grandiosen Ausstellungen wie „Miete Strom Gas“ (Darmstadt 1986), „Peter – die russische Stellung“ (Köln 1987) oder „The Happy End of Franz Kafka’s ‚Amerika‘“ (Rotterdam 1994). Kobel hat Privatvideo- und Fernsehmaterial zu diesen Ereignissen aufgespürt, das nicht nur für Fans aufschlussreich bis begeisternd ist. Wer diese Ausstellungen verpasst hat, kann jetzt noch einmal einen Blick auf deren souverän komponierte Welthaltigkeit erhaschen.

Wer Kippenberger, den leibhaftigen Konstrukteur von sozialen Situationen, Anheizer von Stimmungen und großen Bloßsteller und Verletzer, verpasst hat, bekommt eine Ahnung davon, was es bedeutete, sich in seiner Gegenwart aufzuhalten. Zwar verhält er sich vor dem Mikrofon eines ntv-Reporters moderat, als Witzeerzähler vor einer privaten Kamera präsentiert er sich dagegen schon ungeschützter. Ergänzend liefern WeggefährtInnen wie Kippenbergers Freundin und Galeristin Gisela Capitain, die Sammlerfamilie Grässlin, Kippenbergers ältere Schwestern oder der ehemalige Assistent Ulrich Strothjohann Einschätzungen zur Person: Wie sehr Kippenberger interessierte, was „zwischen den Personen“ geschieht, wie er „permanent am Testen“ gewesen sei, ob jemand korrumpierbar ist oder nicht. „Er konnte reingucken in die Menschen“, heißt es einmal, und dies kann man bewundern oder fürchten oder beides.

Nur Kaspar König, der Direktor des Museum Ludwig, will nicht in den Chor der Freunde, Sammler und Apologeten einstimmen. Er habe nie zum „Fanclub“ gehört, gibt der Ausstellungsmacher zu verstehen, während er – es ist Karnevalssaison – im schwarzweiß gestreiften Sträflingskostüm hinter seinem Schreibtisch sitzt. Ein Anblick, der Kippenberger gut in den Kram gepasst hätte.

„Kippenberger – Der Film“, Regie: Jörg Kobel. Dokumentarfilm, Deutschland/ Österreich 2005, 75 Min.