Wie ein Tropenfieber

POP Noblesse Oblige sind anderswo schon Stars. In Berlin, wo sie leben, gelten sie noch als Geheimtipp. Das neue Album des Elektropop-Duos widmet sich Okkultismus und Voodoo, die Rhythmen stammen aus der Südsee

Aleister Crowley, Charles Baudelaire und H. P. Lovecraft haben ihre Spuren hinterlassen

VON JAN SCHEPER

Sebastian Lee Philipp trägt ein helles Sakko und nippt an einer Tasse Tee, dann zieht er wieder in aller Ruhe an seiner Zigarette. Dazwischen erzählt Philipp von seinem neuen Album. „Malady“ heißt die aktuelle Platte von Noblesse Oblige aus Berlin. Ein melancholisch-düsteres Konzeptalbum ist es geworden, nachdem die Vorgänger „Privilege Entails Responsibility“ und „In Exile“ eher durch spontane hitfertige Popreminiszenzen glänzten.

Noblesse Oblige haben sich mit dem dritten Longplayer vorerst aus den elektronischen Tanzpalästen verabschiedet und auch ihre musikalischen Lieblingsspielzeuge Punk und New Wave in den Sommerurlaub geschickt. Statt Electroclash heißt die Devise jetzt Minimalismus im Mondlichtzimmer. Sie steht dem 2004 in London gegründeten und seit 2006 in Berlin lebenden Duo prächtig. Neben Sebastian Lee Philipp, der das neue Album im bandeigenen Studio in Neukölln produziert hat, verkörpert die französische Schauspielerin und Sängerin Valerie Renay, die zuletzt in dem Kinofilm „L’Amour Toujours“ des holländischen Regisseurs Edwin Brienen zu sehen war, die feminine Seite der Zweiercombo.

„Es war uns wichtig, kleine Geschichten zu erzählen, die sich über den Haupterzählstrang der Platte melodisch eingängig miteinander verbinden lassen“, sagt Lee Philipp. „Deswegen haben wir uns auch entschlossen, zum ersten Mal unsere Texte im Booklet abzudrucken.“ Okkultismus- und Voodoomotive dominieren den Textkorpus des neuen Albums. Entsprechend finden sich allerlei literarische Verweise auf namhafte Vorbilder. Ob nun Aleister Crowleys Beschwörungen, Charles Baudelaires „Fleurs du mal“ oder H. P. Lovecrafts spannungsgeladene Schreckensvisionen – alle haben, so scheint es, auf „Malady“, und der Titel ist auch als Anspielung auf Apichatpong Weerasethakuls Film „Tropical Malady“ zu verstehen, ihre Spuren hinterlassen.

Für Valerie Renay war die Arbeit an der aktuellen Platte auch eine Reise zurück in die eigene Kindheit, die sie auf der Karibikinsel Martinique verbrachte. Die an Mythen und Ritualen reiche Voodookultur des Eilands spiegelt sich gerade in Songs wie „Sambo“, in dem es heißt: „Wherever you go I will follow / From Voodooland into the hollow.“ Die ersten Zeilen des in der Mitte des Albums platzierten Tracks „Tropical Fever“ korrespondieren unmittelbar mit den Sambo-Versen: „Hail to the leader / Who came out of the night / Like a tropical fever / Into my life.“

Timbales und Ukulele

Der Klassiker „Moonlight shadow“ von Mike Oldfield war für Sebastian Lee Philipp ein Schlüsselerlebnis: „Den habe ich im letzten Jahr wiederentdeckt, und Thema und Sound des Liedes haben mich danach nicht mehr losgelassen“, sagt der in Singapur geborene und in Düsseldorf, Spanien und Holland aufgewachsene Musiker. Musikalisch zeichnet sich das dritte Werk von Noblesse Oblige, das wie der Vorgänger „In Exile“ auf dem deutschen Indie-Label RepoRecords veröffentlicht wurde, durch Instrumentenvielfalt und einen wavigen Popsound aus. Da mischen sich Timbales, Kazoo und Ukulele mit eingängigen Hintergrundbeats und lassen genügend Platz für südamerikanische und karibische Einflüsse.

Herzstück der Platte ist bereits der zweite Track: „The Great Electrifier“. Der Sound einer manisch erzählten Liebesgeschichte ist auf das Wesentliche reduziert und überzeugt durch einen dunkel gehaltenen, aber zutiefst romantischen Erzählduktus, dessen Tragik nie Gefahr läuft, in den Untiefen kitschiger Popmusik zu versinken. Das findet auch der Chef von Pale Music International, Steve Morell, der „The Great Electrifier“ als den „Hit-Track des Albums“ bezeichnet. Die Berliner Szenegröße hält Malady für „die schönste Sommerplatte des Jahres 2010. Ein Album, getränkt von Wärme, Sommergefühl, düsterer Erotik, Mystik und Zeitlosigkeit.“

Die Wahrnehmung Morells bestätigt ein Bild, das in Deutschland erst langsam Konturen annimmt, sich in England, Südamerika und Osteuropa aber längst verfestig hat. Noblesse Oblige gelten hierzulande immer noch als Geheimtipp, zählen im Ausland aber mittlerweile zu der etablierten Klasse der Elektro-Undergroundszene. Über 300 Konzerte hat das Duo inzwischen weltweit gegeben.

„Eigentlich verstehe ich mich als Popmusiker, der möglichst dichte Geschichten erzählen will“, sagt Sebastian Lee Philipp und trinkt den letzten Schluck Tee. Das ist ihm, gemeinsam mit Valerie Renay, auf eine ungewöhnlich experimentierfreudige Art gelungen. Das Sakko hat er jetzt ausgezogen. Es wird Sommer in Berlin.

■ Noblesse Oblige spielen am Freitag, 18. Juni im SchwuZ, Mehringdamm 61, 23 Uhr