„Tiefensee? Wichtigtuer“

Daniel Cohn-Bendit sieht in schwarzrotgoldenen Migranten „den Ansatz von Doppelbürgerschaft“, in Ballack einen „aufgeklärten Patrioten“ und in der WM „eine Scheinwelt, zu der man stehen muss“

taz: Herr Cohn-Bendit, kann, soll und darf der Deutsche seine Fahne raushängen?

Daniel Cohn-Bendit: Ich würde weder eine schwarzrotgoldene noch eine französische Fahne raushängen, das sollen mal schön die Kids machen. Aber ich habe auch nichts dagegen. Leider hat das deutsche Hauptboulevardblatt …

Bild …

… die Sache wieder mal überdreht, in dem sie sich als Einpeitscher geriert. Eine Fahne zu schwenken, um zu zeigen, dass man für den Offensivfußball ist, den Klinsmann spielen lassen will, das ist ein Ansatz.

Kann es sein, dass die Stadtteile schwarzrotgoldener werden, je sozial schwächer die Bewohner sind?

Ja, das glaube ich auch. Wobei man sehen muss: Der bayerische Innenminister Beckstein müsste zufrieden sein, wenn er die deutschen Fahnen in den türkischen Stadtviertel wehen sieht.

Ist das Integration oder nur Substitution, weil die Türkei sich nicht qualifiziert hat?

Es ist die Lust, dabei zu sein. Die nehmen das ernst, sie sind Türken und Deutsche. Sie bewegen sich auf eine neue Identität zu.

Aber gaaanz vorsichtig?

Die Dichte und Intensität kann sich noch ändern, aber die Bewegung ist interessant. Das ist ein Ansatz von Doppelstaatsbürgerschaft. Eigentlich müssten Beckstein und Koch sich das noch mal überlegen.

Manche beschwören ein „neues Nationalgefühl?“

Das glaube ich nicht. Ich bleibe dabei: Das ist die Lust an der Party. Und es gehört zum Fußball dazu, für eine Mannschaft zu sein. Speziell manche Linke brauchen auch ein bisschen mehr Souveränität im Umgang mit diesem Bedürfnis nach Identifikation. Man muss ja nicht mitmachen.

Wovor haben sie Angst?

Die Angst der Linken ist, dass ein Teil der Geschichte ausgelöscht wird. Aber man soll Bild nicht auf den Leim gehen: Wir sind nicht Papst, wir sind nicht wieder wer, und wir werden es auch nicht sein. Aber ich finde, dass sich die deutsche Bundeswehr in Afghanistan gut verhält. Sie sind das Gegenteil von einer Besatzungsmacht. Wenn man das sagt, leugnet man nicht, dass die Wehrmacht eine terroristische Besatzungsmacht war.

Warum malen sich Menschen schwarzrotgolden an?

Hessens Ministerpräsident Roland Koch hat gesagt: Wir wollen nicht die Indianer der Moderne sein. Er wollte sagen: von den Einwanderern an den Rand gedrängt und vernichtet.

Und?

Die Antwort des deutschen Volkes lautet: Es gefällt uns, Indianer zu sein. Wir gehen in Kriegsbemalung zur WM. In Frankfurt habe ich zwei barbusige Frauen am Fenster tanzen sehen. Ihre Busen waren schwarzrotgold bemalt. Und unten auf der Straße standen Engländer und fotografierten. Die fanden das alle ganz toll.

Verkehrsminister Tiefensee hat eine Fahne an seinem Dienstwagen.

Wichtigtuer. Die wollen doch nur ihr Foto in der Bild-Zeitung haben. Aber lassen wir mal Bild und die Wichtigtuer raus, dann hat es einen Nationalismus mit so einem menschlichen Antlitz selten gegeben.

Kommen Sie: Die Politik will die WM doch für ihre Zwecke missbrauchen. Es soll die Leute ablenken vom Zerbrechen des Sozialstaats?

Auch Arbeitslose haben das Recht auf glückliche Stunden. Das ist das eine. Aber in der Tat ist die WM deshalb so faszinierend, weil sie eine Scheinwelt ist, die die Realität außer Kraft zu setzen scheint. Man sollte sich dessen bewusst sein, aber dazu stehen.

Nationalmannschaftskapitän Michael Ballack trägt ein Shirt mit der Aufschrift „Italia“.

Das ist ein gelungener Gag und ein aufgeklärter Patriotismus mit einer globalisierten Dimension. Das macht Ballack sympathisch.

Herr Cohn-Bendit, Brasilien wurde nach dem 1:0-Start über Kroatien von ARD-Kommentator Beckmann und anderen heftig kritisiert. Zu Recht?

Lieber Beckmann, geh zur Fußballschule. So sind Weltmeisterschaften. Ich erinnere an Westdeutschland 1974, Argentinien 1978, Italien 1982, Frankreich 1998. Alle schwach gestartet, alle wurden Weltmeister. Was Brasilien betrifft: Sie haben ja nur zu neunt gespielt. Ich weiß nicht, in welcher Bar Ronaldo und Adriano waren …

Auch andere Mitfavoriten sind mit Ergebnisfußball ins Turnier geschlichen.

Logisch: Am liebsten gewinnt man, ohne auf Topniveau zu sein. Weil man sich im Turnier entwickeln muss. Die Frage ist, ob man das Potenzial zu dieser Entwicklung hat. Bei Frankreich bin ich da mehr als unsicher. Und Brasilien muss sich jetzt von Ronaldo verabschieden und Robinho bringen. Dann wird man sehen.

Die Deutschen?

Die müssen Offensivfußball spielen. Nicht wegen der Zuschauer, sondern weil das das Einzige ist, was man mit dieser Mannschaft machen kann. Deshalb kehrt Klinsmann zu einer linken Weisheit von Menotti zurück: Im Fußball geht es darum, ein Tor mehr zu schießen als der Gegner. Aber das Beispiel Griechenland ist interessant.

Die standen hinten drin.

Nicht wegen der Spielphilosophie. Aber sie waren physisch topp, und alles hat gepasst. Was ist, wenn bei Deutschland alles passt und die anderen ihr Potenzial nicht abrufen? Wie es aussieht, spielt Deutschland im Viertelfinale gegen Argentinien. Dann wird man sehen.

GESPRÄCH: PETER UNFRIED

DANIEL COHN-BENDIT, EU-Spitzenpolitiker, gehört zum WM-Analyseteam der taz.