Sieg oder Gefängnis – es gibt kein Zurück mehr

UKRAINE In Kiew demonstrieren Tausende für den Rücktritt der Regierung. Der „Euro-Maidan“ hat schon jetzt Geschichte geschrieben

AUS SIMFEROPOL ANASTASIJA MAGAZOVA

Seit mehreren Wochen steht die Ukraine im Fokus der internationalen Öffentlichkeit. Endlich haben sich die unterwürfigen Ukrainer wieder erhoben. Das Land hat in der Vergangenheit schon öfter die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt: durch Siege der Klitschko-Brüder bei Boxkämpfen; den ersten Platz beim Eurovision Contest; durch eine Orange Revolution, die keine Resultate hatte; die Durchführung der Fußball-Europameisterschaft. Ja, man kann sogar eine ehemalige Regierungschefin hinter Gitter bringen. Doch dieses Mal ist alles ganz anders. Ernster und vielschichtiger.

Der „Euro-Maidan“ hat bereits Geschichte geschrieben. Und diese Geschichte ist tragikomisch. Alles begann am 21. November, als die ukrainische Regierung eine Woche vor dem EU-Gipfel der Östlichen Partnerschaft in Vilnius den Prozess der Annäherung an die Europäische Union (EU) auf Eis legte. An diesem Abend sammelten ukrainische Journalisten mithilfe von Facebook und Twitter bereits mehrere hundert Stimmen von Bürgern, die mit dieser Entscheidung nicht einverstanden waren. Parallel dazu führten Studenten einer Hochschule in Lwiw eine ähnliche Aktion durch. Zu diesem Zeitpunkt konnte sich noch niemand vorstellen, in welche Richtung sich alles entwickeln würde.

Acht Tage lang, vom 21. bis 29. November, fanden auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew friedliche Demonstrationen statt. In diesen Tagen machten Studenten vieler Universitäten auf den Straßen ihrem Unmut über die Nichtunterzeichnung des Assoziierungsgabkommens Luft. Jeder verteidigte seine Träume, sich frei in den Staaten der EU bewegen zu können, von einem höheren Lebensstandard und letztendlich von einer europäischen Zukunft.

Diese jungen Leute hofften, dass der Präsident das Abkommen mit der EU doch noch unterzeichnen würde. Doch Janukowitsch wusste nur zu gut, dass er das nicht tun würde. So demonstrierten die Studenten immer weiter.

Doch dann passierte etwas Unerwartetes. Am 29. November, nach seiner Rückkehr aus Vilnius, beschloss der Präsident, die Ordnung in der Hauptstadt wiederherzustellen. Unter dem zynischen Vorwand, den Unabhängigkeitsplatz säubern lassen zu müssen, um dort einen Weihnachtsbaum und einen Weihnachtsmarkt aufbauen zu können, trieben Sondereinheiten der Polizei (Berkut) die demonstrierenden Studenten mit Gewalt auseinander.

Diejenigen, die der Polizei entkommen konnten, flüchteten in das ukrainisch-orthodoxe Michaelskloster. Alles war wie in einem Horrorfilm: Die Mönche gewährten den Protestierenden, die am Eingang von den Berkut-Einheiten erwartet wurden, Obdach.

Am Morgen des 30. November wachten die Ukrainer in einem anderen Land auf. Jetzt teilt sich die Geschichte in ein vor und ein nach dieser Novembernacht. Noch nie war es in der unabhängigen Ukraine zu einem Blutvergießen gekommen und nie war gegen friedliche Demonstranten Gewalt angewendet worden. Die Ukrainer brauchten gerade einmal 24 Stunden, um am 1. Dezember aus allen Regionen des Landes nach Kiew zu kommen und gegen diesen Gewaltausbruch zu demonstrieren.

Jetzt begann die zweite Phase. Die Annäherung an die EU trat in den Hintergrund. Die Hauptforderung war, dass die Regierung und Präsident Janukowitsch zurücktreten sollten. Auf den Straßen fand sich erstmals seit der Orange Revolution im Jahr 2004 eine große Menschenmenge ein – Schätzungen zufolge bis zu einer Million. Diesmal schlossen sich auch ältere Menschen den Studenten an. Die Regierung hatte eine Grenze überschritten und Präsident Wiktor Janukowitsch seine Kapitulation unterzeichnet.

Kein Analyst oder Politologe konnte vorhersehen, wie sich die Ereignisse weiterentwickeln würden. Der größte Unterschied zur Orange Revolution ist, dass die Menschen aus eigenem Antrieb auf die Straßen gingen, ohne dass die Oppositionsparteien sie dazu aufgefordert hätten.

Bezeichnend war auch das Verhalten der Opposition in diesen Tagen. Keiner ihrer Führer war auf diese Wendung der Ereignisse vorbereitet. Lange Zeit organisierte sich der „Euro-Maidan“ selbst – mit der Hilfe von engagierten Menschen, ganz gewöhnlichen Ukrainern.

Die Staatsmacht versuchte in dieser Zeit zu zeigen, dass sie die Lage im Land kontrollierte. So wurden Demonstrationen organisiert, deren Teilnehmer die Politik des Präsidenten und der Regierung angeblich unterstützten. Doch für die Journalisten war es ein Leichtes herauszufinden, dass diese Leute dafür bezahlt wurden.

Nach dem Massenprotest am 1. Dezember in Kiew kamen immer mehr Menschen. Vom 1. bis zum 10. Dezember nahmen die Demonstranten Regierungsgebäude ein und errichteten Barrikaden in einigen wichtigen Straßen der Hauptstadt.

Derzeit erinnert Kiew an Paris im Jahre 1848.

Die dritte Phase begann in der Nacht zum 11. Dezember. Noch einen Tag vorher hatte Janukowitsch Vertretern der EU und der USA zugesichert, dass er zu konstruktiven Schritten bereit sei und keine Gewalt gegen Demonstranten angewendet werden würde. Doch schon in der Nacht versuchten Berkut-Einheiten erneut, die Barrikaden zu stürmen – vergeblich. Mutig verhinderten die Ukrainer, dass in dieser Nacht Blut vergossen wurde. Das Vorgehen von Janukowitsch ist ein eindeutiger Hinweis auf die Agonie der Staatsmacht. Bereits am Morgen des 11. Dezember verstärkten die Demonstranten die alten Barrikaden und errichteten neue. Dieses Volk weicht nicht zurück, jetzt lautet der Slogan: „Kämpfen bis zum Ende!“

Viele Ukrainer verstehen, dass es nur zwei Wege gibt – zu einem Sieg oder geradewegs ins Gefängnis. Deshalb gibt es kein Zurück mehr. Die Mehrheit der Ukrainer hat bereits ihre sowjetische Mentalität verloren. Diese Geschichte wird von einer neuen Generation von Ukrainern geschrieben – einer Generation, die fest an eine europäische Zukunft glaubt.

Aus dem Russischen Barbara Oertel