Deutschland, deine Patrioten?!

Kündet die Schwarzrotgoldisierung von Stadtteilen und Teilen der Bevölkerung beim Fifa-Event Fußball-WM von einem neuen Patriotismus in Deutschland?
Das Bekenntnis zu Schwarzrotgold – gerade auch der Migranten – drückt Stolz aus, zu etwas zu gehören, das okay ist. Meint Jan Feddersen

Die Dreifarbigkeit der Völkischen war es nicht. Schwarz und Rot und Gold als Signum der deutschen Nation (BRD wie DDR, Letztere versah es noch mit Hammer & Sichel) war ursprünglich eine Kolorierung der Befreiungshändel von napoleonischer Imperialität – und unseren Kreisen doch immer verdächtig, nicht allein für Nation, sondern für dessen -ismus zu stehen. Für Krieg in spe, für Arroganz, für Rassismus und Aggression überhaupt. Nicht für eine geografisch definierte Sorte Land, innerhalb dessen Grenzen BürgerInnen leben, die darin wohnen, arbeiten – also das ausmachen, was Gesellschaft und Staat bedeuten. Sondern für ein Monstrum, materiell wie ideologisch. Nie wieder Deutschland – Schluss mit Schwarzrotgold! Eine Unterstellung. Jüngeren nicht nachfühlbar zu machen.

Momentan besuchen hunderttausende Fußballfans (und nicht nur diese) unser Land. Sie treffen auf Menschen, die sich in puncto Zuvorkommenheit überbieten wollen; sie sind überall willkommen – und wo sie dies nicht sind, hat sich ein ekelhafter Schleier von Verachtung über diese und ihre Areale gelegt. In den Straßen gibt es jede Menge Kneipen und Cafés, in denen niemand draußen bleiben muss – im Gegenteil. Überall kann man Platz nehmen, man ist unter Fremden und doch nicht draußen. Unter den Linden, vor zwei Tagen, kroatische Fans, leicht angeschickert, grölen. Gäste eines Restaurants beschweren sich, die Polizei kommt und sagt zu den Beschwerdeführern: „Deutschland beschwert sich nicht!“

Ein Satz von unwiderlegbarer Kraft: Soll er die Schnauze halten mit seiner Gartenzwergpesterei. Die Kroaten wurden nicht abgeführt, aber ermahnt: Sie mögen doch bitte … auf den Verkehr aufpassen. Solche und andere, unzählig andere Geschichten werden erzählt: Super, klasse, mega, krass, wow, boah sind wir, alle bis auf die Doofen, aber die sind beleidigt, dumpfen hasserfüllt im Osten herum, geächtet, jetzt, wo selbst die Menschen, deren Vorfahren aus der Türkei oder Syrien oder dem Libanon oder Kasachstan stammen, schwarzrotgoldene Fähnchen und Wimpel schwenken oder am Auto befestigt spazieren fahren. Denn: „This land is your land“ (Woody Guthrie) – und das wissen jene, die sich hier zu Hause fühlen, allmählich ziemlich genau.

Schwarzrotgold heißt also ein Bekenntnis zu dem, was das eigene Leben gut macht. So wie die USA ihre Fahne lieben (und mithin an sie „glauben“) – und keineswegs locker nehmen: The star spangled banner ist ein Freiheitsversprechen, und gälte es nicht mehr, wäre the land of the brave nicht mehr das beliebteste Migrationsziel aller Entrechteten und Kurzgehaltenen. Schwarzrotgold meint das Gleiche.

Man sollte Migranten fragen, was sie an Deutschland, ihrer neuen Heimat, mögen, allen kulturellen Phantomschmerzen zum Trotz. Man hörte dann leicht, was diese deutsche Trikolore gegenüber Eventwohlfühlaccessoires mit einem Surplus versieht: Ein T-Shirt von einem Madonnakonzert heißt lediglich Spezielles – man mag eben diese amerikanische Entertainerin. Schwarzrotgold aber zertifiziert mehr, es meint eine Staat- wie Gesellschaftlichkeit, die Freiheit wie Sicherheit inkorporiert. Gemessen an allen Dritteweltländern, an solchen des muslimischen Nahen Ostens, auch im Vergleich mit osteuropäischen Staaten heißt das: eine funktionierende Gerichtsbarkeit, Rechtsstaatlichkeit überhaupt; keine korrupte Polizei; ein Gesundheitswesen, das diesen Namen verdient; ein Schul- und Bildungsbereich, der Kindern lernen möglich macht; Straßen, die taugen, und Eisenbahnen, die alles in allem funktionieren. Und, wichtiger vielleicht noch: ein Staat und eine Gesellschaft, die Rassismus weitgehend in den Bereich von Alltagstrivialitäten verbannt hat, die Frauen nicht in Apartheid hält. Und die Rechtsextreme böse ächtet.

Schwarzrotgold heißt stolz auf dieses Land sein, denn es ist das aller, die in ihm leben. Deren Arbeit darin steckt, deren Leidenschaften, deren Lieben und deren Tragödien. Das, meinetwegen, kann alles wieder in Gefahr sein, man weiß ja nie, was die Zukunft bringt, das hat Zukunft so an sich. Und aus welchen Schößen, die fruchtbar … blablabla: Deutschland mag sich, das zeigen diese WM-Tage, man hat von fantasmatischen Befürchtungen alles satt, man möchte konkret keinen Ärger und mit anderen gute Nachbarschaft. Man feiert, ganz besonders gern in Neukölln, im Schanzenviertel, in Mülheim, also in Migrantenvierteln, und zwar mit der Klinsmanngang. Nicht, weil die Türkei nicht mit von der Partie ist. Sondern weil dieses Team in diesem Turnier etwas von dem in sich trägt, was dieses vergangenheitsgrundbewältigte Land zu fühlen alle Gründe hat: Zufriedenheit und Zuversicht.

Dass dieses egalitäre Moment verschwinden könnte, mit der Nacht auf den 10. Juli? Ja, glaubt das mal. Immer das Schlimmste befürchten. Weil einem das bequemer ist? Weil Multikulti auf Schwarzrotgold einem unheimlich wäre? Quatsch und im Gegenteil. So erst käme das neue Deutschland zu seinem Sinn: weltoffen, ‚bluts‘vermischt und sicher. Eben Einigkeit und Recht und Freiheit. That’s it.

Man muss es nur so wollen.

Die Patriotismusdebatte langweilt. Es geht auch nicht nur um Party. Es geht darum, in der Masse Gleichheit zu erfahren. Meint Frank Lübberding

Kaum ist WM und fährt halb Deutschland mit einem Fahnenständer Schwarzrotgold durch die Gegend, sind wieder die Berufsabwiegler unterwegs. Dieses Nationalgefühl sei entweder gesund oder unerheblich, aber auf jeden Fall ungefährlich. Diesen Eindruck kann man haben. Nun ist es tatsächlich unsinnig, sogleich das Gespenst des Nationalismus oder gar der Nazis an die Wand zu malen. Vor allem weil die Neonazis schon längst aus der deutschen Volksgemeinschaft Fußball-WM ausgeschlossen worden sind. Sie stören offensichtlich das gesunde Volksempfinden.

Tatsächlich sind diese Analysen um Patriotismus oder Nationalgefühl so banal wie überflüssig. Sie erklären nichts. Es ist die ewig gleiche Debatte, die zu jeder Fußball WM seit dem Jahr 1990 aufgewärmt wird. In Wirklichkeit geht es um ein ansonsten heute verfemtes Bedürfnis, das seinen Ausdruck sucht. In dem einzigen Rahmen, den diese Gesellschaft noch zur Verfügung stellt. Es geht um Gleichheit.

„Innerhalb der Masse herrscht Gleichheit. Sie ist absolut und indiskutabel und wird von der Masse nie in Frage gestellt. Sie ist von so fundamentaler Wichtigkeit, dass man den Zustand der Masse geradezu als einen Zustand absoluter Gleichheit definieren könnte. Ein Kopf ist ein Kopf, ein Arm ist ein Arm, auf Unterschiede zwischen ihnen kommt es nicht an. Um diese Gleichheit willen wird man zur Masse. Wer immer davon ablenken könnte, wird übersehen. Alle Forderungen nach Gerechtigkeit, alle Gleichheitstheorien beziehen ihre Energie letzten Endes aus diesem Gleichheitserlebnis, das jeder auf seine Weise von der Masse her kennt.“

So beschrieb Elias Canetti in „Masse und Macht“ Gleichheit als Kriterium für die Bildung von Massen. Zu so einer Masse scheint Deutschland momentan zu werden. Am eindrucksvollsten passiert diese Massenbildung bei den Veranstaltungen, wo sich die Menschen zum öffentlichen Fernsehen treffen. Es scheint sogar völlig gleichgültig zu sein, ob man das Spiel live im Stadion oder an Public-Viewing-Orten schaut. Die Stimmung ist identisch.

Man begibt sich in Uniform und in Kriegsbemalung dort hin. Man legt Wert darauf, dass alle Unterschiede verschwinden. Dabei ist die Identifikation mit der Mannschaft oder mit dem Staat, für den diese Mannschaft antritt, gar nicht das Entscheidende. In Wirklichkeit fühlt man sich seinem Nachbarn verbunden. Dem Menschen, der rein zufällig an diesen Orten neben dir steht. Wenigstens für 90 Minuten.

Damit findet hier etwas statt, das der herrschenden Ideologie komplett widerspricht. Hier ist nicht mehr von Eigenverantwortung die Rede. Oder von der Individualität des Einzelnen – in der Masse spielt sie keine Rolle. Genauso wenig wie die üblichen Distinktionsmerkmale dieser Gesellschaft: sozialer Status, Einkommen, Bildungsstand. In einer Gesellschaft, die ansonsten Ungleichheit propagiert und durchsetzt, ist dieses offenkundige Bedürfnis nach Gleichheit in der Masse keine Petitesse. Das Nationalgefühl ist dafür nur ein Transportmittel – und wird mit dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft – oder auch dem Titelgewinn – wie ein Spuk verschwinden. Massen zerfallen, wenn das Ziel erreicht oder verfehlt worden ist. Insofern ist die Lebensdauer dieser Masse begrenzt.

Man sollte dieses Phänomen aber auch nicht gleich als Party oder Event in die üblichen Raster sperren, wie es derzeit praktiziert wird. Auch ist die Kommerzialisierung durch die Fifa oder der Medienwahn um die WM keineswegs die Ursache dieses Phänomens. Die Fifa kann nur die Tatsache zu Geld machen, dass der Fußball zurzeit die einzige Sache der Welt ist, die ganze Nationen in Canettis Massen verwandeln kann.

Die Medien lösen den Wahn auch nicht aus – sie greifen ihn nur auf. Aus einer Hockey-WM wird sich kein Masse bilden lassen – so sehr sich die Medien auch darum bemühten.

Offenkundig ist diesem Phänomen auch nicht mit den üblichen Debatten um Patriotismus und Nationalismus beizukommen. Die sind zurzeit wirklich nur langweilig – sowohl im Alarmismus, der allerdings kaum stattfindet, als auch in der Abwiegelei. Wenn man Canetti richtig liest, hat das Ganze sogar eine mythische Dimension.

Bei den öffentlichen Veranstaltungen wird die jeweilige Mannschaft bekanntlich auch angefeuert, obwohl die Chöre von den Spielern selbstredend nicht gehört werden können. Das erinnert an eine Anekdote aus Canettis Buch:

„Mirary heißt auf Madagaskar ein alter Tanz der Frauen, der nur im Augenblick des Kampfes getanzt werden darf. Wenn eine Schlacht angekündigt war, wurden die Frauen durch Boten verständigt. Dann lösten sie ihr Haar und stellten auf diese Weise eine Verbindung mit den Männern her. Als die Deutschen im Jahr 1914 auf Paris marschierten, wurde zum Schutz der französischen Soldaten von den Frauen in Tananariva das Mirary getanzt. Es scheint trotz der großen Entfernung gewirkt zu haben.“

Die Masse muss Canetti gelesen haben. Sie ist in einem tranceähnlichen Zustand. Sie glaubt an ihre magischen Kräfte. Selbst im Angesicht der deutschen Abwehr.