Aus der Zeit fallen

KUNST Gertrude Sandmann war Malerin in Berlin. Im Jahr 1942 täuschte die Jüdin ihren Selbstmord vor, um im Untergrund zu überleben. Als sie starb, 1981, hat die Öffentlichkeit ihrer kaum gedacht. Erst jetzt

■ Gertrude Sandmann war eine Berliner Künstlerin, jüdisch und offen lesbisch. Im Nationalsozialismus wurde Berufsverbot über sie verhängt, sie wurde verfolgt, musste untertauchen, überlebte versteckt in Berlin. Erst spät bekommt sie Anerkennung.

VON WALTRAUD SCHWAB

Trauer? Nein. – Rührung. Friedhöfe in der Dämmerung wecken sie. Auch am späten Nachmittag des 16. Oktober 2013, als sich drei Dutzend Frauen in dicken Jacken auf dem Alten St.-Matthäus-Friedhof in Berlin treffen. Sie stehen eng nebeneinander am Fuß eines Baumes mit schuppigem Stamm. Ein paar Männer sind auch dabei. In der Mitte des Kreises, den die Menschen umschließen, ist ein Stein, verdeckt von einem Tuch, das weggezogen wird nach gebührender Zeit, nach Reden, nach Musik, nach kurzen Erinnerungen. „Sie war eine feine Dame.“ „Sie war zart und zerbrechlich.“ „Sie lebte in der Kunst.“

Die Silhouetten zweier sich küssender Frauen sind auf der oberen Fläche des Steins eingraviert. Das Profil der einen schmiegt sich ins Profil der anderen. Auf einer Seite des Steins steht: „Gertrude Sandmann, 1893–1981, Malerin, Grafikerin“. Auf der daneben: „Tamara Streck, Akrobatin, 1915–1979“.

Die beiden lernten sich nach dem Krieg erst kennen, ein ungleiches Liebespaar. Streck, die vor deutschen Frontsoldaten auftrat. Und Sandmann, die jüdisch war, die im Winter 1942 einen Abschiedsbrief auf den Tisch ihrer Wohnung in Berlin legte und untertauchte, die überlebte und nicht richtig wieder auftauchte, weil, so schien es, einmal tot immer tot bedeutet, selbst wenn es gar nicht so war.

„Nicht immer kann man es sich leisten, Gefühle zu haben“, zitiert eine der Frauen auf dem Friedhof einen Satz, den Sandmann während des Krieges in ihr Tagebuch schrieb. Dann nimmt Traude Bührmann das Mikrofon und erzählt von der Malerin, deren Leben die Tragik des letzten Jahrhunderts spiegelt und deren 120. Geburtstag sich an diesem Oktobertag jährt. Die Geburtstagsfeier ist eine Gedenkfeier, die aus der Zeit fällt, als wäre sie erst dieses Jahr gestorben, 32 Jahre nach ihrem Tod.

Die Frau am Mikrofon, Traude Bührmann, Schriftstellerin, schmal mit einem fein gezeichneten Gesicht, eine, die selbst noch im Krieg geboren ist, eine, die Stewardess war und Hippie, Welt- und Frankreichreisende, hat die Versammlung organisiert. Denn einmal wurde sie in Toulouse von Frauen gefragt, wie lesbische Künstlerinnen den Faschismus in Deutschland überlebt haben und was aus ihnen wurde. Sie wusste es nicht, begann zu recherchieren, fand Spuren, folgte ihnen.

Es gab nicht wenige lesbische Künstlerinnen damals im Laboratorium Weimarer Republik. „Jeanne Mammen, Gerda Rotermund, Hannah Höch, Claire Waldoff, Anita Rée, Lotte Laserstein – sie alle liebten auch Frauen“, zählt Traude Bührmann später abseits der Zeremonie auf. Fast keine hat nach dem Krieg wieder Fuß gefasst. So haben die Nazis dann doch ihr Ziel erreicht.

Als Bührmann suchte, stieß sie auch auf Gertrude Sandmann, Tochter eines wohlhabenden Berliner Kaufmanns, eine, die Künstlerin werden wollte, aber noch zu jener Frauengeneration gehörte, die nicht an die Kunstakademie durfte – bis 1919 war es ihnen verboten. Sandmann musste privaten Unterricht nehmen. Eine ihrer Lehrerinnen: Käthe Kollwitz.

Sandmann malt Landschaftsbilder, Stillleben, weibliche Figuren. Meist sind die Frauen nur bis zur Taille ausgeführt, das erzeugt Nähe. Sie malt mit einem ungeheuer sicheren Strich, das Angedeutete bekommt in ihren Bildern Bedeutung. Auch die Skizze der beiden sich küssenden Frauen auf dem Stein stammt von ihr. Ihre erste Einzelausstellung hat sie im Jahr 1923.

Ob sie berühmt geworden wäre, wenn die Nazis nicht an die Macht gekommen wären? Die Frage ist müßig. Fest steht, ab 1933 wird sie auf vielfache Weise kaltgestellt: Weil sie Jüdin ist – eine, die sich als solche vorher gar nicht wahrnahm. Weil sie Lesbierin ist, eine, die nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass sie Frauen liebt. Und als Künstlerin – ihre Arbeiten gelten als „entartet“. Sie darf nicht ausstellen, nicht verkaufen, nicht unterrichten. Erst als es für jüdische Leute verboten ist, versucht sie auszureisen. Bis November 1942 hält sie durch. Als sie merkt, dass auch die letzten noch in Berlin lebenden Juden und Jüdinnen in die Vernichtungslager deportiert werden sollen, täuscht sie im November 1942 den Selbstmord vor, verlässt ihre Wohnung, lässt alles zurück, ihre Bilder, ihre Lebensmittelmarken, ihre Ausweise, und wird zuerst von einem kommunistischen Ehepaar versteckt, später in einer Laube. Ihre damalige Freundin Hedwig Koslowski, für alle nur „Johnny“, versorgt sie mit Lebensmitteln. Ein stetiger Kampf, denn auch die arische Freundin war gefährdet. Lesben wurden in der Nazizeit nicht wie schwule Männer kriminalisiert, wiewohl wurden sie als Asoziale verfolgt.

Das alles konnte man noch recherchieren, sagt Traude Bührmann. Aber danach, was kam danach für die Frauen? „Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts findet man nichts zu Lesben“, sagt sie. „Man braucht doch für sein Sosein eine Resonanz. Wo hat sie die gefunden?“

Erst mit der aufkommenden Frauenbewegung in den siebziger Jahren ändert sich etwas. Gertrude Sandmann und ihre Lebensgefährtin kamen in den Frauenbuchladen, der 1975 in Berlin-Schöneberg eröffnete. Auch die erste Gruppe älterer Lesben im Nachkriegsberlin L74 gründet sie mit. Es ist ein Auftauchen nach langer Zeit.

Ein paar Frauen aus der Buchladenszene erinnern sich noch an die Künstlerin. Christiane von Lengerke ist eine. Sie war ab und zu bei Sandmann eingeladen. Die Besuche seien immer nach dem gleichen Ritual abgelaufen. „Man trank etwas, Mädchentraube, Calvados, und dann fragte sie, ob wir ein Bild sehen wollen.“ Die Besucherinnen konnten nicht nein sagen. Denn Sandmann, eher wortkarg, „sprach durch die Bilder.“ Die Kunst, und die Freundschaften, hätten sie gehalten all die Zeit. „Sie war uns gegenüber offen, obwohl wir die Kinder der Eltern waren, die sie in diese entsetzliche Lage gebracht hatten.“ Aber wie Sandmann in der Zeit nach dem Krieg bis in die siebziger Jahre gelebt hat, das weiß sie auch nicht. „Nur dass sie gemalt hat. Jeden Tag.“

Peter Horvath-Mohacsi, Sohn der Sekretärin von Willy Brandt, als dieser Berliner Bürgermeister war, ist auch bei der Feier auf dem Friedhof. Er trägt ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Bild von Sandmann unter dem Arm, ein Erbstück, das er am selben Tag noch nach Leipzig bringen will zu einer Ausstellung. Er erzählt, dass er für seine Mutter immer die Reiseschreibmaschine bis zur Wohnungstür der Künstlerin in der Eisenacher Straße tragen musste, eingelassen wurde nur seine Mutter. Gertrude Sandmann flößte ihm, ein Teenager damals in den sechziger Jahren, Respekt ein. Schon beim Telefonieren. „Sie hatte eine markante Stimme, ich bin vor Ehrfurcht zusammengezuckt.“ Jeden Dienstag von 20 bis 22 Uhr besuchten sich die beiden Frauen. Die Begegnungen blieben geheimnisvoll. „Vermutlich“, sagt er, „erledigte meine Mutter für Sandmann die Korrespondenz.“

Ein paar Tage später in einem Café an einer Ecke unweit des Bahnhofs in Leipzig ringt Horvath-Mohacsi, der einerseits 68er und andererseits Versicherungsmakler war, nach einer Erklärung, warum seine Mutter der Künstlerin half und sich eintakten ließ auf diese Dienstage und die genaue Zeit. „Es muss ihre persönliche Wiedergutmachung gewesen sein, obwohl sie politisch nicht belastet war“, sagt er.

Die Mutter, deren letzte Liebe ebenfalls eine Frau war, erbte einen großen Teil der Bilder von Sandmann. Er wiederum erbte sie von seiner Mutter. Jahrelang lagerten sie in Kellern. Jetzt versucht er, diese Last, denn das sind die 700 Bilder, wieder ans Licht zu holen. Er nimmt sie bei seinen Umzügen mit, lässt sie restaurieren, rahmen, katalogisieren. Ob er seiner Mutter nahekommt dadurch? „Vielleicht.“ Aber er führt mit seiner Mission auch so etwas wie die Widersprüche weiter, die seine Familiengeschichte durchziehen und in der preußischer und ungarischer Adel steckt sowie linke Sozialdemokratie, Herrschaft und Rebellion.

Traude Bührmann wiederum, die schon jahrelang eine Französin liebt, die jetzt einundsiebzig und nicht froh ist, „vielleicht nur noch zehn aktive Jahre zu haben“, warum tut sie es? „Als ich kein Grab von Gertrude Sandmann fand, dachte ich, wir setzten ihr einen Gedenkstein. Zwischen die Wurzeln des Baumes, dort wo keine Urne vergraben werden kann, dort kostet es nichts.“ Außerdem sei die Stelle gut gewählt. Gegenüber ist Hedwig Dohm begraben, Schriftstellerin und eine der ersten feministischen Theoretikerinnen, sie hat von 1831 bis 1919 gelebt. Wegen ihr kommen Friedhofsführungen hier vorbei, Sandmann und ihre Freundin werden ab jetzt dabei nicht unerwähnt bleiben. Ist das Raffinesse? Ist das Findigkeit? „Kann sein“, antwortet Bührmann, „aber wir“ – wir Frauen, wir Lesben – „müssen selbst dafür sorgen, dass wir nicht vergessen werden.“