„Wir gehören längst dazu“

Die Integration ist viel weiter fortgeschritten als die Politiker es wahrhaben wollen.Sie vergessen nicht, woher sie kommen, aber sie vergessen eben auch nicht, wo sie leben

INTERVIEW: NATALIE WIESMANN

taz: Herr Abdullah, noch nie waren bei einer Weltmeisterschaft so viele deutsche Fahnen zu sehen. Wie geht es Ihnen dabei?

Salim Abdullah: Ich sehe es als das, was es ist: Als Fußballfest und nicht als überhöhte Euphorie für dieses Land. Man steht zu diesem Staat, ist stolz auf die Mannschaft. Ich glaube nicht, dass dadurch die deutsche Bevölkerung nationalistischer wird.

Auffälliger als die scheinbare neue Gelassenheit der Deutschen im Umgang mit Patriotismus sind die vielen Migranten, die ihre Häuser und Autos mit Schwarz-Rot-Gold schmücken. Das war noch bei keiner WM so. Ist das ein Zeichen von gelungener Integration?

Ich glaube, dass man das so werten kann. Die Integration ist viel weiter fortgeschritten als die Politiker es wahrhaben wollen. Vierzig Jahre lang hat man die Migranten allein gelassen und nicht als Einwanderer wahrgenommen. Das, was wir als Integration vorfinden, ist meistens von den Migranten selbst vollzogen worden. Wenn die größte Migrantengruppe, die Türken, Betriebe gründet und in Arbeitsplätze investiert, dann ist sie in hier angekommen.

Und welche Rolle spielen die deutschen Fahnen?

Die Fahnen sollen ausdrücken: „Wir gehören längst dazu“. Aber sie müssen nicht unbedingt ein nationales Gefühl bedeuten. Denn ich habe den Eindruck, dass Migranten sich in beiden Häuten wohl fühlen: Sie vergessen nicht, woher sie kommen, aber sie vergessen eben auch nicht, wo sie leben.

Geht das alles in Richtung amerikanischer Patriotismus?

So sieht es jedenfalls in diesen Tagen aus.

Passend dazu haben sich die Innenminister geeinigt, den Einbürgerungsakt feierlicher zu gestalten.

Ich kann nur sagen: Meine Tochter hat sich vor zwei Jahren einbürgern lassen und das verlief ganz nüchtern. Sie ging nur zur Behörde und holte sich ihre Urkunde ab. Sie ist eine junge Frau, die gesetzestreu ist und dieses Land liebt. Vor allem die Landschaft hier im Sauerland, wo sie aufgewachsen ist. Sie erfüllt ihre staatsbürgerschaftlichen Pflichten und versucht in dieser Gesellschaft ihre Lebensziele zu verwirklichen. Das ist ja alles schön und gut. Dass sie aber gleich vor Stolz ausflippt, kann man von ihr nicht erwarten.

Einbürgerungsfeste können keine Euphorie bewirken?

Nein. Es könnte vielmehr dazu kommen, dass man still und heimlich darüber lächelt. Wir leben in einer nüchternen Zeit. Diese bedarf nicht der Aufwertung nationaler Symbole, wenn wir in Europa zusammenwachsen wollen. Immer wieder geistert durch die Presse, dass nur ein guter Deutscher auch ein guter Europäer sein könne. Das ist Unsinn. So werden wir nie die Vereinigten Staaten von Europa bekommen – wenn etwa bei Abstimmungen über das Schicksal unseres Kontinents in erster Linie nationale Interessen vertreten und durchgesetzt werden.

Sie sind halb Deutscher, halb Bosniak. Haben Sie anlässlich der WM eine Deutschland-Fahne aufgehängt?

Nein. Obwohl ich Fußball-Fan bin und mir wünsche, dass die deutsche Nationalmannschaft gewinnt. Aber Sieg oder Niederlage bei einer Sportveranstaltung sehe ich nicht durch die nationale Brille. Deshalb kann ich auch nicht verstehen, dass aus sportlichen Anlässen die Nationalhymnen abgespielt werden. Wenn man nationale Symbole verehrt und geachtet wissen möchte, dann muss man rarer mit ihnen umgehen und darf sie nicht mit Kommerz verbinden.

Aber wenn schon Fahnen, dann ist es beruhigend, wenn sie auch Migranten hissen?

Ja, genau. Denn die Migranten wollen mit dieser Haltung ja etwas demonstrieren: Wir stehen hinter der deutschen Mannschaft, wir sind hier angekommen. Das sollte uns aber auch nicht verwundern: Denn es handelt sich bei den Fahnenschwenkern bereits um die dritte Einwanderergeneration, die ihre Wurzeln eindeutig in der Bundesrepublik hat.

Sehen die Betroffenen das genauso?

Wir haben im vergangenen Jahr Umfragen gemacht bei Migranten, die die deutsche Staatsangehörigkeit schon angenommen haben oder sie noch annehmen möchten. 35 Prozent haben gesagt: Wir wissen nicht, ob wir eine Zukunft in diesem Lande haben. Das heißt nicht, dass sie wieder fort wollen. Aber sie zweifeln zwischenzeitlich daran, ob sie in diesem Lande überhaupt willkommen sind.

Was hält die Migranten in Deutschland?

Sie haben bestimmte Dinge schätzen gelernt. Sie haben festgestellt, dass dies ein Rechtsstaat ist. Sie können gegen Maßnahmen vorgehen, die sie für ungerecht halten. Sie haben gewerkschaftliche Mitbestimmung in Betrieben. All diese Dinge gibt es in der Türkei, die sich demokratisch nennt, nicht. Die Frage ist, will dieses Land uns wirklich? Wenn Muslime wieder einmal unter Generalverdacht stehen, zweifeln sie daran. Aber bei dieser WM zeigen sie, dass sie dazu gehören wollen.

Wer schwenkt eigentlich die deutsche Fahne? Sind das nur Döner-Buden-Besitzer, die damit Kunden anlocken wollen?

Natürlich will der Dönerbuden-Besitzer mit deutscher Flagge Geschäfte machen wie jeder andere deutschstämmige Geschäftsmann in diesen Tagen auch. Er könnte aber durchaus ein Fußballfan sein, der mit der Fahne bekunden möchte, dass er voll hinter der deutschen Nationalmannschaft steht. Im Übrigen kommen die „Jubel-Migranten“ aus allen Schichten.

Dabei sind nicht einmal türkischstämmige Spieler in der Mannschaft.

Nein, aber es ist die Mannschaft, die für Deutschland spielt. Das ist das Entscheidende.

Aber türkischstämmige Spieler sind in der deutschen Nationalmannschaft noch nicht angekommen.

Wenn man sich in Deutschland früher zum Einwanderungsland bekannt hätte, wären diese Probleme gelöst. Dazu gehört auch, dass das Staatsangehörigkeitsrecht sehr spät reformiert wurde. Wenn das früher passiert wäre, wären Türken heute in allen Schichten, die mit der Öffentlichkeit zu tun haben, besser vertreten – wie bei der Polizei, in den Medien oder auch in der Nationalelf. Aber in anderen Ländern hat man auch Probleme. Denn dort glaubte man, dass nur die Einbürgerung für die Integration reichen würde.

Wie hätte das eigentlich ausgesehen, wenn die Türkei an der WM teilgenommen hätte?

Das hätte eine Zerreißprobe bedeutet. Es liegt auf der Hand, dass es den türkischstämmigen Migranten leichter fällt, für die deutsche Mannschaft zu sein, wenn die Türkei nicht mitspielt. Ich kenne das von mir auch: Als Deutschland gegen Bosnien spielte und es zum Unentschieden kam, hab ich mich wie ein Kind zu Weihnachten gefreut. Gleichzeitig bin ich aber auch Schalke-Fan bis auf die Sohle.

Was passiert nach der WM? Werden da die Fahnen wieder eingezogen und alles geht weiter wie bisher?

Ich schätze mal, es geht so weiter wie bisher – es sei denn, dass die deutschstämmige Bevölkerung den Migranten sagt: Ihr ward klasse, ihr habt hinter unserer Mannschaft gestanden. Wenn das nicht erfolgt, geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Es müsste also ein Echo kommen: Wir haben doch jetzt gesehen, dass wir ein Volk sind, egal wo unsere Vorfahren herkommen.

Werden die Migranten die deutsche Mannschaft zu Weltmeistern machen?

Ich wünsche mir zwar, dass Deutschland Weltmeister wird. Aber ich bin Realist: Brasilien und Holland werden vermutlich den Titel unter sich ausmachen.