die taz vor 15 jahren über ein berliner haus, durch das die u-bahn fährt
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Eigentlich müßte das Haus jedesmal in seinen Grundfesten erbeben, die Wände wackeln und das Geschirr aus den Regalen purzeln. Aber es passiert nichts dergleichen. Nur wer ganz genau darauf achtet, hört alle paar Minuten ein dumpfes, sattes Grollen aus dem Untergrund. Von außen ist das Haus in der Dennewitzstraße 2 in Schöneberg ein gewöhnliches, graues Mietshaus. Ungewöhnlich ist nur, daß es im Treppenhaus so leise ist. Man erwartet einfach ohrenbetäubenden Lärm, wenn eine U-Bahn mitten durchs Haus fährt: Die U-1 taucht auf der Fahrt vom Gleisdreieck zur Kurfürstenstraße genau in der Dennewitzstraße 2 in den Untergrund ab.

„Uns stört die U-Bahn nicht“, sagt der Hauswart, der seinen Namen nicht genannt wissen will. Womöglich würden ihn dann noch nachts Leute anrufen und fragen, ob sie das Haus besichtigen könnten. An das U-Bahn-Grollen habe er sich gewöhnt, „das höre ich überhaupt nicht mehr“. Weit mehr auf die Nerven gehen der Hausmeisterfamilie die Touristen. Besonders im Sommer klingeln fremde Menschen bei ihnen oder den anderen Mietern und wollten „das Haus sehen, durch das die U-Bahn fährt“.

Dabei gibt es nicht viel zu sehen. Von außen sieht man eine Betonröhre, die in Höhe des dritten Stockwerks durch das Haus führt, innen nur Betonwände. „Ich weiß nicht, was die sich Leute vorstellen“, der Hausmeister schüttelt den Kopf. „Manche Leute scheinen zu glauben, man könnte aus dem Treppenhaus den Fahrgästen zuwinken.“

Auch der Keller ist eine Enttäuschung. Daß hier eine U-Bahn fährt, ist nirgends zu sehen. Keine Stützpfeiler. Nur graue Kellerwände. „Stützpfeiler?“ In einem Keller könne man die sehen, aber der „ist an eine Band als Übungsraum vermietet und immer …“ Abgeschlossen, will die Frau des Hausmeisters sagen, aber das Wort geht in donnerndem Getöse unter. Wenn man die Bahn auch nicht sehen kann, die Akustik im Keller ist gut.

Anja Seeliger, taz vom 17. 6. 91