Auch was zuletzt stirbt, stirbt

THEATER Vom nicht nur sozialen Elend in den Vorstädten erzählt „Das blaue blaue Meer“. Sebastian Martin hat das Stück für den Brauhauskeller minimalistisch eingerichtet

Nis-Momme Stockmann, geboren 1981 in Wyck auf Föhr, gehört zu den jungen deutschen Dramatikern, deren Werke erfolgreich aufgeführt werden. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit führt Stockmann Regie, fotografiert, malt und filmt. Als Dramatiker debütierte er im vergangenen Jahr mit „Der Mann der die Welt aß“, „Das blaue blaue Meer“ (UA: 2010, Frankfurt) ist sein drittes Stück.

■ In Bremen hatte „Das blaue blaue Meer“ im Mai in der Regie von Sebastian Martin Premiere und ist noch am 19., 23., 24. und 26. Juni im Brauhauskeller zu sehen.

VON ANDREAS SCHNELL Ein Mann liegt in der Ecke. Umgeben von Flaschen, unter ihm ein paar Lumpen, zu seinen Füßen ein paar Plastiktüten. So wie sie in zunehmendem Maße die Städte bevölkern. Nicht nur in Afrika oder Lateinamerika. Im Alltag mag man ihnen ein paar Cent geben, was vor dem individuellen Elend, der Verwahrlosung geschah, will man indes lieber doch nicht so genau wissen.

Als wir Darko, die Hauptfigur von Nis-Momme Stockmanns „Das blaue blaue Meer“, kennenlernen, ist die Sache längst gelaufen. Und wenn die Geschichte erzählt ist, wissen wir gleichwohl längst nicht alles. Wer zum Beispiel schuld woran ist und welchen Grund das alles hat. Wobei nicht einmal so genau bekannt gemacht wird, was „das alles“ eigentlich ist. Wir müssen uns aus dem Fragmentarischen, das die Erinnerungen eines bekennenden Alkoholikers nun mal so haben, die erschütternden, anrührenden, beklemmenden und oft auch trivialen Details zusammenreimen, die gleichwohl bekannt vorkommen dürften, zumindest in ihrer Verwurstung zu rührenden Fernsehfilmen – aus denen ein Ausweg dort zwecks Happy End zwingend einzuschlagen ist.

Nis-Momme Stockmann gönnt uns diese letzte Ausfahrt nicht. Die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt. Aber sie stirbt. „Ich glaube, Sterne gibt es nur im Märchen“, sagt Motte, die Wohnsiedlungsprostituierte, in die sich Darko verliebt, am Ende. Nachdem sie nicht nur nicht mit Darko in den Zoo kam, sondern auch das nicht wesentlich unbescheidenere Sehnsuchtsprojekt Norwegenreise sowie das kleine Glück zu zweit auf die Plätze verwiesen worden sind.

Dass dabei die Frage nach dem Grund mit der nach der Schuld in einen Topf geworfen wird, wir aber weder Erklärung noch Urteil erhalten, kann man durchaus als Schwäche des Stücks bezeichnen. Stockmann, so zitiert das Programmheft, will das „Gewöhnlichste wahrnehmbar machen, so dass es wieder kritisierbar wird“.

Das Gewöhnlichste hier wäre: Missbrauch, Mord, Krankheit, Ausweglosigkeit, Saufen bis zum Umfallen. Und Nazis, die Darko und Motte verspotten, gibt es zu allem Überfluss auch noch in der Siedlung. Als habe Stockmann bloß keine der Demütigungen, Schrunden und Narben einer Elendsexistenz auslassen wollen, um die Misere zu beschreiben. Kritisierbar wäre die natürlich durchaus. „Das blaue blaue Meer“ will diese Arbeit allerdings nicht leisten – und wo das Stück es versucht, geht es daneben: Die Siedlung sei ein „Lager, eine Maschine“, von Politikern geplant, auf dass sie sich weiter nicht mit dem Elend abgeben müssten. „So angelegt, dass wir hier verlorengehen sollen.“ Doch woher das Elend, das dem vorausgehen muss, kommt? Wer das noch nicht weiß, erfährt es auch hier nicht. Kritik gab es allerdings weniger dafür als für die poetische Sprache, in der kein Säufer rede, und mangelnder Realismus wurde Stockmann gelegentlich auch vorgeworfen. Was allerdings nicht verhindert, dass seine Figuren anrühren.

Eben das hat Regisseur Sebastian Martin, der hier seine erste Bremer Regiearbeit abliefert, erkannt und so bei allen Schwächen des Stücks eine recht intensive Arbeit vorgelegt. Wo die Frankfurter Uraufführung im Januar dieses Jahres mit Tocotronic-Songs, Leuchtschlangen und Videos arbeitete, vertraut Martin bei seiner Bremer Inszenierung auf die Kunst der Schauspieler. Eine gute Entscheidung.

Der gelegentlich etwas zu gutmütige wirkende Sven Fricke erfüllt die Figur des jungen Darko einfühlsam mit Leben, Varia Linnéa Sjöström spielt Motte höchst nuanciert und entwickelt deren Fragilität in der Schlusssequenz zu enormer Intensität. Souverän wieder einmal Siegfried W. Maschek, der als alter Darko und weiteren Rollen Zeitebenen ineinander verschränkt, deren Setting (Bühne und Kostüme: Katja Fritzsche) durch nichts von den Figuren ablenkt: Ein Sessel, Schnapsflaschen, und hinten, am Ende des Schlauchs des Brauhauskeller, eine Leinwand, auf der wir immer wieder einen Blick auf die Siedlung bekommen, über der keine Sterne leuchten.