: Schaden die Tafeln den Armen?
Fast 900 Tafeln versorgen in Deutschland rund eine Million Bedürftige. Mit den Sozialkürzungen wird die Zahl noch steigen. Tafel-Schirmherrin Kristina Schröder lächelt dazu
JA
Stefan Selke, 42, ist Soziologie-Professor und kritisiert seit 2006 die Tafelbewegung
Tatsächlich ist die bei Tafeln geleistete Hilfe – wie erste empirische Ergebnisse zeigen – nicht nachhaltig. Nachhaltig wäre sie erst dann, wenn die Adressaten der Hilfe sich aus ihren Armutslagen befreien und dauerhaft selbstbestimmt versorgen könnten. Tafeln nehmen immer häufiger institutionelle Eigeninteressen und nur noch selten die Perspektive der Nachfrager in den Blick. Sie etablieren beschirmherrschaftete Scheinwelten, in denen sich Erwartungen verstetigen und in denen Perspektivlosigkeit zunimmt. Tafeln sind unauflösbar ambivalent: Sie veröffentlichen und skandalisieren Armut, aber sie schaden gleichzeitig den Armen. Dann, wenn sie parallelweltliche Reservate schaffen, in denen sich Menschen „abgespeist“ fühlen. Dies ist schädlich, weil sich am Ort der Abspeisung niemand mehr als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlen kann. Dafür gibt es viele Gründe – über die meisten wird nur hinter vorgehaltener Hand, nicht aber offen und selbstkritisch gesprochen. Vor dem Hintergrund einer gefühlten, nicht aber legitimierten moralischen Verpflichtung immunisieren sich die Interessenvertreter der Tafeln gegen diese Form der Kritik an der Praxis und verbieten sich Einmischung in „ihre“ Angelegenheiten. Die Tafeln haben aber keine Sonderstellung in der Welt: Mehr Transparenz und Partizipation im System der Tafeln wäre eine erste Form der Schadensbegrenzung. Am meisten schaden die Tafeln den Armen, weil sie die Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität (ver)-formen und Normalität suggerieren, wo keine herrscht. Dies wäre die Kritik am Stellenwert der Tafeln: Als scheinbar verlässlicher Pannendienst versorgen sie die Armen, ohne zur strukturellen Armutsbekämpfung beizutragen. Die Adressaten der Tafeln dürften aber von einer „sozialen“ Bewegung mehr erwarten.
Peter Grottian, 68, ist Politikwissenschaftler und Mitglied im Berliner Sozialforum
Wer sollte schon etwas dagegen haben, wenn arme Menschen in den USA, Frankreich, der Schweiz und Deutschland zusätzlich mit Obst, Gemüse und Backwaren besser versorgt werden? Und wer wollte schon etwas gegen die ParteienvertreterInnen, Erzbischöfe, ArbeitsministerInnen und Rundfunkintendanten sagen, die dieses ehrenamtliche Engagement unterstützen und in den höchsten Tönen loben? Und trotzdem: Die Tafeln schaden den Armen, weil sie die wirkungsmächtige Erosion des Sozialstaats fördern. Sie untergraben das soziale Grundrecht, dass jeder und jede einen gesetzlichen Anspruch auf eine menschenwürdige Grundsicherung hat. Sie erlauben, den Sozialstaat zu demontieren, und begrüßen gleichzeitig auf ihren Festveranstaltungen reihenweise Politiker und Politikerinnen, die mit der einen Hand Sanktionen gegen Hartz-IV-EmpfängerInnen verhängen und gleichzeitig die Arbeit der Tafeln bejubeln. Armut kann politisch nützlich sein, Tafeln werden unter der Hand zu einem sozialpolitischen Instrument, den verfallenden Sozialstaat zu beblümen. Erst wenn die Tafeln schließen mit der Botschaft „Wir lassen uns nicht politisch missbrauchen!“, wäre eine neue politische Qualität zum Streit über weniger Tafeln und mehr Sozialstaat entfacht.
Michael Dietz, 61, ist Systemadministrator und hat seinen Beitrag auf taz.de gestellt
Es sollte ehrlicherweise „Trog“ und nicht „Tafel“ heißen. „Tafel“ ist eines der vielen Beispiele für unsere christliche Leidkultur, eine verlogene Kultur der Euphemismen. Anstatt dass wir die Menschen an unseren Tisch holen, speisen wir sie ab mit unseren Abfällen. Ehe wir es wegschmeißen, geben wir es lieber den „Armen“. So können wir ihnen mit unserer Wohltätigkeit auf edle Art ständig vor Augen führen, dass sie eben keine „Mitmenschen“, sondern „arme Schweine“ sind. Und wir müssen uns nicht hinterfragen und uns mit unserem eigenen Anteil daran auseinandersetzen. Wir können unsere wohlmeinenden und verständnisvoll klingenden Sätze beibehalten, die in Wahrheit aber abwertend sind.
NEIN
Sabine Werth, 53, Sozialpädagogin, hat vor 17 Jahren die erste deutsche Tafel mitbegründet
Inzwischen werden mehr als eine Million Menschen im Land mit Lebensmitteln unterstützt. Dadurch werden die Menschen satt, träge und unpolitisch! Gut, dass wir jetzt endlich wissen, wo die Schuldigen sitzen! Das sind die über 40.000 Aktiven der 872 Tafeln in Deutschland! Und die Politik kann sich ausruhen, denn wir Tafelmenschen werden es schon richten! Oh, wie mir diese Argumente zum Hals heraushängen! Die Armut schadet der Gesellschaft und was können wir gemeinsam dagegen tun?! Das sollte die Frage sein. Solange aber die Armutskonferenzen gegen Tafeln hetzen, ohne dass je jemand von einer Tafel angehört wird, solange „namhafte“ Soziologen einen Totalboykott für mehrere Tage bei der Arbeit der Tafeln fordern, ohne zu fragen, ob das im Interesse der „Gäste“ ist, so lange findet ein Abklatsch, aber keine Diskussion statt. Vielleicht gelingt es hier zur Abwechslung einmal zu bedenken, dass es zuerst um den Einsatz gegen die Verschwendung von Lebensmitteln ging, dass im zweiten Schritt Obdachlose versorgt werden sollten. Dass sich erst im dritten Schritt das Spektrum erweiterte und soziale Einrichtungen beliefert wurden. Erst da kamen die „Armen“ bei der Versorgung hinzu! Es ging immer darum, Zeichen zu setzen: gegen Verschwendung, gegen Bedürftigkeit und gegen Versäumnisse der Politik.
Martin Brüning, 44, von der Rewe-Group, dem größten Lebensmittelspender für die Tafeln
Die Parole „Tafeln schaden den Armen“ ist zynisch. Wer auch nur ein einziges Mal selbst bei den Tafeln geholfen und dort mit den bedürftigen Menschen gesprochen hat, der wird diese schlagzeilenheischende Aussage über die konkrete Not Einzelner über Bord werfen. Selbstverständlich brauchen wir in Deutschland eine wirksame Sozialpolitik und vor allem faire Löhne. Gerade Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels, wie die zur Rewe-Group gehörenden Rewe Supermärkte und Penny Discountmärkte, würden in hohem Maße davon profitieren, wenn alle Menschen in Deutschland genügend Geld hätten, um sich ausreichend Lebensmittel zu kaufen. Aber diese Einsicht darf die Hilfe für Bedürftige nicht ausschließen. Die Tafeln selbst engagieren sich mit großem Nachdruck für eine Sozialpolitik, an deren Ende eine Situation stehen muss, in der niemand auf Lebensmittelspenden angewiesen ist. Von diesem Tag aber sind wir leider noch weit entfernt. Wer allerdings darauf spekuliert, dass im Sinne der Marx’schen Verelendungstheorie sozial alles erst noch viel schlimmer werden muss, damit die unausweichliche revolutionäre Erhebung der Massen gegen das „falsche“ System in Gang kommen kann, der ist in der sozialen und politischen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts schlicht und einfach nicht angekommen.
Gerd Häuser, 62, ist Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel e. V.
Tafeln können Armut nicht verhindern. Sie leisten praktische Hilfe, damit die wachsende Gruppe der Einkommensarmen über die Runden kommt. Sie bieten keine Vollversorgung, sondern ergänzende Hilfe. Neben dem sozialen Ausgleich ist die Nachhaltigkeit ein wichtiger Aspekt der Tafel-Idee: Dass tadellose Lebensmittel eher vernichtet werden, als sie denen zugänglich zu machen, die sie benötigen, finden die Aktiven der Tafel-Bewegung unerträglich. Unter ihnen sind Menschen unterschiedlichster Herkunft – Professoren und Hartz-IV-Empfänger, Rentner und Jugendliche, Christen und Muslime. Eine solche Vielfalt findet man nicht oft in unserer Gesellschaft. Weil sich die Tafeln nicht vereinnahmen lassen wollen, finanzieren sie sich vor allem durch private Spenden. Außerdem tragen sie ihre politischen Forderungen nach mehr Anstrengungen im Kampf gegen Armut regelmäßig an die Öffentlichkeit. Aber die Mittel, Armut dauerhaft zu verhindern, hat nur die Politik: Daran erinnern wir die Verantwortlichen regelmäßig. Die Tafeln sind keine willfährigen Helfer des Sozialabbaus – sie sind das schlechte Gewissen der Gesellschaft.
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