Jammern macht lustig

Ein finnisch-deutsches Künstlerpaar hat den „Beschwerde-Chor“ erfunden. In Birmingham und Helsinki waren sie schon. Jetzt ist Hamburg dran

Interview: Petra Schellen

taz: Was hat Sie bewogen, ein „Beschwerde-Chor“-Projekt zu starten?

Tellerwo Kalleinen: Gedanken über die Natur des Klagens machen wir uns schon seit Jahren. Denn die meisten von uns klagen eine Menge. Wir verwenden eine Menge Zeit und Energie darauf – Energie, die eigentlich verloren ist. Denn die Klagen ersetzen oft die reale Veränderung der beklagten Situation. Da haben wir uns gefragt, ob man diese Energie nicht produktiver einsetzen könnte.

Warum müssen die Klagen ausgerechnet im Chor vorgetragen werden?

Tellerwo: Weil das Bedürfnis nach dem Lamento uns alle eint. Die Klage als Abbau von Frustrationen ist ein allen Menschen gemeinsames Muster.

Oliver Kochta-Kalleinen: Die konkrete Idee eines Chors entstand, als uns auffiel, dass es im Finnischen das Wort „Klagechor“ gibt. Da haben wir gedacht, warum soll man das nicht mal wörtlich nehmen ...

Widerspricht die Idee des Beschwerde-Chors aber nicht den meist individuellen Klagen?

Tellerwo: Das ist ja gerade die Transformation, die uns interessiert: Wir wollen die individuelle in eine kollektive Klage verwandeln und dabei verfremden. Wir wollen die Subjektivität des Klagens in eine gemeinsame Erfahrung verwandeln und so zeigen, dass es gar nicht so sehr um die konkreten Inhalte geht, sondern um das kollektive Verhaltensmuster.

Sie haben ähnliche Projekte bereits in Birmingham und Helsinki durchgeführt. Wie haben Sie Ihre Chorsänger gefunden?

Tellerwo: Wir haben Einladungen verteilt, in denen wir die Menschen aufgefordert haben, Klagen einzusenden – als Rohmaterial für das einzustudierende Lied.

Worüber haben sich die Menschen in Birmingham konkret beklagt?

Oliver: Meist über Persönliches: Einer klagte, dass seine Träume so langweilig seien. Andere sorgten sich angesichts der Wiederwahl Tony Blairs. Auch die Asphaltierung der englischen Vorgärten durch unleidliche Nachbarn schien ein größeres Problem. Und einer war tatsächlich betrübt, weil sein Bart nicht wuchs – dabei hätte er so gern wie ein Seemann ausgesehen!

Eine nicht ganz ernst gemeinte Klage ...

Tellerwo: Ich glaube, wer keine Selbstironie hat, findet sowieso nicht zu uns. Denn das macht ja gerade den Reiz unseres Projekts aus: Das Lächeln auf den Lippen, mit dem die Menschen zum ersten Treffen kommen, und die durchaus ernsten Klagen, die sie mitbringen. Von dieser Ambivalenz lebt letztlich das Projekt.

2003 hat der Helsinki-Beschwerde-Chor seine Lamenti aufgeführt. Worüber klagen Finnen?

Oliver: Es gab viele Lamenti über die Dominanz des Handys und die hohen finnischen Wohnungspreise. Etliche Klagen bezogen sich auf das Arbeitsumfeld, weil Arbeit in Finnland eine zentrale Bedeutung hat.

Tellerwo: Und etliche Frauen beschwerten sich darüber, dass sie weniger verdienen als die Männer. Denn obwohl Finnland im Ausland als gleichberechtigt gilt, gibt es da noch große Defizite.

Wie gehen Sie bei den Chorproben konkret vor: Was geschieht beim ersten Treffen?

Oliver: In Birmingham haben wir die 250 eingesandten Klagen in Arbeitsgruppen aussortiert. Zum übrig gebliebenen Text hat ein Komponist dann eine mehrstimmige Melodie entworfen.

Mehrstimmiger Gesang scheint ja recht anspruchsvoll für einen Laienchor ...

Tellerwo: Wir haben die Stimmen nicht zu schwer gemacht. Aber allzu banal sollte es auch nicht sein. Denn die Menschen haben sich engagiert und extra für dieses Projekt zusammengefunden. Etliche hatten noch nie etwas mit Musik zu tun gehabt. Sie sollten etwas schaffen und erleben, das anspruchsvoll und eine starke Erfahrung war. Und der 15 Personen starke Birmingham-Chor hat in der Tat energetisierend auf die Leute gewirkt. Erst recht der in Helsinki, zu dem 90 Personen erschienen waren.

Welche Rolle spielen Sie als Künstler bei den Proben?

Oliver: Wir sind normale Chormitglieder und verstehen uns nicht als Chefs. Und wenn die anderen uns fragen, welchen Text sie nehmen sollen, bilden wir ein Komitee, das darüber entscheiden soll.

Wo haben Sie das einstudierte Werk aufgeführt?

Tellerwo: Wir haben es jeweils fünf- bis sechsmal aufgeführt, an verschiedenen Orten. In Helsinki haben wir eine Performance im modernen „Kiasma“-Museum gegeben, eine andere in der U-Bahn-Station und auf dem Markplatz. Teils haben wir gezielt die Orte aufgesucht, auf die sich die Klagen bezogen. Die Performances haben wir dann gefilmt.

Werden Sie Ihr Projekt später soziologisch aus? Wird es ein „Lexikon der Klage-Mentalitäten“ aus Ihrer Feder geben?

Tellerwo: Nein. Die systematische Auswertung ist nicht unsere Aufgabe. Aber wir freuen uns natürlich, wenn Soziologen unser Material verwerten.