Nicht schwelgen! Turnen!

Ausgebuht, überbrüllt und mit Wutausbrüchen bedacht: Intendant Peter Mussbach inszeniert an der Staatsoper Franz Lehárs „Lustige Witwe“ als ein objektiv sinnloses Stückchen Unterhaltung und düpiert so alle Operetten-Nostalgiker

Mit einem veritablen Skandal geht die Saison an der Staatsoper zu Ende. Gebrüll und Geschrei unterbrechen minutenlang die Vorstellung. Als sich am Ende Hausherr und Regisseur Peter Mussbach doch noch zum Schlussapplaus auf die Bühne traut, ist der Saal kaum noch zu halten. Unverhohlene Wut und Hass werden derart laut, dass die wenigen, die noch den Mut haben zu klatschen, nicht mehr zu hören sind.

Mussbach gelang denn auch nicht das geringste Lächeln, aber er sollte sich keine Sorgen machen: Die elementare Wut im Saal beweist nur, dass es noch immer genügend Leute gibt, die genau wissen, wie Lehár zu spielen ist. Sie werden immer kommen, wenn „Die lustige Witwe“ gegeben wird, sie sind die nostalgische Geschäftsgrundlage der Gattung Operette, die ganz sicher die musealste Abteilung des Museums Oper ist.

Die „Lustige Witwe“ ist eine nie polemische, nur milde satirische Romanze zwischen einem herzensguten Schwätzer aus dem Adel und einer ebenso herzensguten Bankierswitwe vom Lande – ein Groschenroman, verziert mit hübschen Melodien, die arg viel Staub angesetzt haben. Wie man dieses Stück Unterhaltung aus einer Zeit, in der es in Paris Lebemänner, Grisetten und das „Maxim“ gab, heute aufführen soll, weiß Mussbach tatsächlich nicht. Er sucht gar nicht erst nach einer Aktualität, die es nicht gibt: Er nimmt das Fundstück aus unerreichbar ferner Vergangenheit nur auseinander, um zu schauen, woraus es besteht.

Ein Flugzeug ist abgestürzt, das Personal purzelt in Rettungswesten auf die Bühne, später schwebt die reiche Witwe am Fallschirm ein. Nichts ist passiert: Alle sind wohlauf und turnen fortan auf einer bühnenfüllenden Tragfläche und einem Düsentriebwerk herum, während sie mit der Staatsaufgabe beschäftigt sind, die Witwe mit Graf Danilowitsch zu verheiraten, damit ihr Erbe im Lande bleibt. Schwierig ist das nicht, weil die beiden sich sowieso lieben. Und so geht es nur ein wenig drunter und drüber, während die erotisch-finanziellen Verwicklungen munter dem ewig schönen Schlusswalzer zustreben: „Lippen schweigen, ’s flüstern Geigen …“

Der große Wagnersänger Siegfried Jerusalem ist sich nicht zu schade, mit all der ihm eigenen Kunst einzustimmen. Wunderbar klingt das, aber fühlen kann man es nicht – Mussbach hat uns zuvor jedes Gefühl gründlich ausgetrieben. Kein Pariser Leben nirgends, die Pontevedriner sind in der Eiswüste gestrandet: Mal werden sie zu Froschmännern, mal zu Pinguinen. Dass sie das so gar nicht stört in ihrer Routine aus Intrigen und Herzenshändel, macht Mussbachs schwer verständliche, gewaltsame Dekonstruktion immerhin plausibel.

Diese Operettenwelt hatte noch nie Bezug zu einer psychologischen oder politischen Wirklichkeit. Daher lassen sich die dramatischen Beziehungen ebenso gut als Zirkusnummern darstellen: Am Seil hängend fischt sich die Witwe den widerspenstigen Grafen und zieht ihn mit sich empor in den Liebeshimmel, zuvor hat sie sich vom Flugzeugflügel aus in die Arme ihrer Freier geworfen. Dass Nadja Michael bei alledem ihre Partie immer noch perfekt singen kann, verdiente Sonderapplaus – in der Premiere jedoch ging diese Szene im Gebrüll unter.

Ist das noch Operette? Ja, es kann nur das sein – in jeder andern Kunstform müsste man nach Sinn suchen. Hier nicht. Mussbach reduziert das erwartbare Vergnügen auf den Anblick einer Turnübung mit Gesang. Das Missverständnis, dass es je um irgendetwas ging – Satire, Geld und Liebe –, hält sich offenbar seit 1905. Mussbachs Inszenierung untersucht nicht, wie es zu diesem Missverständnis kam. Er will nicht kritisieren, er will Lehár nur objektivieren. Das ist das Letzte, was die Freunde der Operette ertragen können.

NIKLAUS HABLÜTZEL

Nächste Aufführungen: 20., 23., 27., 30. 6.; 2. und 4. 7., jew. 19.30 Uhr