Briefe an junge Eltern

Die Wahrheit-Wochen der kleinen Verbrechen. Heute: Nachrichten aus der Großstadt

Ich weiß nicht, wie es heute ist, aber 1982 war es bedeutend angenehmer, sich als junger Mann das Herz am Feuer der Freude über eine glücklich ergatterte Zivildienststelle bei der Bielefelder Arbeiterwohlfahrt zu erwärmen als das Strohfeuer dieser Freude jäh erlöschen zu sehen und danach noch viele Monde lang in der kalten Asche des Alltags zu stochern. Damals residierte die Bielefelder Filiale der Arbeiterwohlfahrt im ersten Stock der Arndstraße Nr. 8, und was man zu sehen bekam, wenn man dort aus dem Fenster schaute, das waren, alles in allem, mehrere Stromkabel und Straßenbeleuchtungskörper, ein dürftiges Stück Fußgängerzone und das rege Treiben konsumorientierter Einwohner eines Kaffs, das von dem größten örtlichen Käseblatt in der Rubrik „Nachrichten aus der Großstadt Bielefeld“ sechsmal wöchentlich als Metropole beweihräuchert wurde.

Als AWO-Zivi hatte ich täglich zirka dreißig Briefe zu frankieren. Den Rest der Zeit verbrachte ich damit, den Blick durchs Fenster zu vermeiden und mich mit Rolf Dieter Brinkmann zu identifizieren. Der Zufall hatte mir Brinkmanns nachgelassenes Werk „Rom, Blicke“ in die Hände gespielt, und das war die passende Lektüre für einen auf dem Höllenplaneten Ostwestfalen gefangenen Zivildienstleistenden: „Wrruummmm, Autos! Ampeln! Fassaden! Idiotisches Gehupe! Idioten! Menschen! Gar nicht zu fassen! Scheiße!“

Gelegentlich musste ich in Begegnungsstätten am Stadtrand tanzenden Senioren Kaffee und Kuchen servieren. Um dorthin zu gelangen, durfte ich den Dienstwagen nehmen, einen klapprigen Renault 4, dem auf der Rückfahrt regelmäßig die Puste ausging, spätestens am Jahnplatz und am liebsten im dicksten Berufsverkehr.

Eines Tages wies Frau Günzel, die Frau vom Chef, mich in einem winzigen, staubigen Nebengelass in die Arbeit an der „Adrema“ ein. Die Adrema war eine Adressiermaschine für Rundbriefe. Im Namen des Arbeitskreises „Jugend in der Gesellschaft“ sandte die AWO turnusmäßig tausende von Rundbriefen „an junge Eltern“ aus, um die Adressaten zu beglückwünschen und sie über Fragen der Säuglingspflege und Kindererziehung zu belehren. Wenn sich die Adresse eines Elternpaars geändert hatte, musste das betreffende Stanzblech hervorgesucht und sodann mit Hilfe der Adrema die neue Adresse eingestanzt werden, Buchstabe für Buchstabe und Ziffer für Ziffer. Ich, nicht faul, stanzte schon bald ein Blech zurecht, das meinen alten Schulfreund Josef Boven als Abonnenten der „Briefe an junge Eltern“ auswies. Der hatte zwar keine Kinder, aber das war ja gerade der Spaß an der Sache. Josef ermahnte mich mehrfach, seinen Namen aus der Kartei zu tilgen, aber damit biss er bei mir auf Granit. Alles, was ich unter mir hatte, war die Adrema, und was ich mit der anstellte, ging niemanden etwas an.

Dachte ich. Bis mich Frau Günzel in ihr Büro zitierte und mir den Brief eines gewissen Josef Boven vorlas: „Sehr geehrte Herren! Obwohl ich kinderlos bin, werde ich seit vielen Wochen mit Ihren schweinsdämlichen ‚Briefen an junge Eltern‘ bepestet und schikaniert. Wenn Sie nicht augenblicklich damit aufhören, mich mit Exemplaren dieser Schriftenreihe zu bemustern, sehe ich mich dazu gezwungen, gerichtliche Schritte gegen Sie einzuleiten …“

Todernst fasste mich Frau Günzel ins Auge. Ostwestfalen 1982, das war nicht das Land des Lächelns und Verzeihens. Das nicht, nein. GERHARD HENSCHEL