Johnnys Marotten

Mit der Ausstellung in Hamburgs Deichtorhallen ist Jonathan Meese zum Großkünstler aufgestiegen. Die Medien hofieren ihn als Beuys-Nachfolger, sein Werk wird dabei fast nebensächlich. Zu Unrecht

von HARALD FRICKE

Nein, nicht gleich Hardcore. Nicht die ans Kreuz genagelten Raben, nicht die kolossartigen Skulpturenmonster. Wenn man den Weg an einer rosa Burg vorbei wählt, steht man vor einer Fotowand in Schwarz-Weiß, mit Porträts von Klaus Kinski, Romy Schneider oder Emma Peel. Auffällige Gemeinsamkeit ist die rote Schrift, mit der die Helden aus Kino und Kulturadel übersät sind. Steve McQueen wurde mit „Erz“ übermalt, auf Mishimas nackter Brust treffen „Revolution“ und „War“ aufeinander. Richard Wagner ist auch dabei, mit der Schere zurechtgestutzt und vor Kriegsgräber collagiert.

Das Schlachtfeld mitsamt seinen Ikonen stammt von Jonathan Meese. Er steht auch schon als Sieger der Großinszenierung in den Hamburger Deichtorhallen fest. Zumindest, was das mediale Feedback betrifft. Seine „Mama Johnny“ betitelte Überblicksausstellung besitzt zwar keine Blockbuster-Qualitäten wie Picasso oder die Expressionisten des Blauen Reiters. Aber wann zuletzt wurde über einen Künstler, der gerade mal Mitte dreißig ist, in Bild berichtet – und dann auch noch halbwegs positiv? „Dieser Ahrensburger ist der neue Beuys“, so stand es ein bisschen standortstolz in der Hamburger Lokalausgabe. Die Zeit hat ihn zu Hause bei seiner Mutter besucht, für Welt am Sonntag war er ein Erlebnis. Langhaarig, dunkelbärtig, vom Wahnsinn geküsst und voll verrückter Ideen. Vor lauter Begeisterung für Meese himself war seine Kunst dabei schnell vergessen. Statt sich mit dem international gehandelten Werk zu beschäftigen, wich man in Ermangelung von Argumenten auf Home Stories aus. Celebrity zieht immer, bei Springer und am Speersort.

Für Volk und Kübelwagen

Was man in Hamburg zu sehen bekommt, sind dagegen: schwer halluzinatorische Fantasien. Ein gigantischer, braun bemalter Kopf, dem Genitalien ums Kinn wachsen – so stellt sich Meese den Parzifal vor. Links am Eingang steht ein Sperrholzturm, auf den ein Stalinposter gepinnt ist und ein paar provozierende Wörter über Staat und Volk geschrieben wurden. Ein VW-Kübelwagen ist mit derangierten Schaufensterpuppen beladen, es gibt endlose Meter Leinwand mit Fratzen, direkt aus der Farbtube gequetscht. Das Zentrum bildet aber ein monumentaler Würfel aus schwarzer PVC-Folie, der als Auditorium mit einer Drehbühne dient. Aus angenehmer Distanz kann man von den Rängen herab chillen oder zuschauen, wie sich auf Video-Screens und in Dioramen das Meese-Universum entfaltet, vom Skelett im Käfig bis zum rottenen Styropornest, in dem eben noch ein Kettensägenmassaker stattgefunden haben könnte.

In seiner Gestaltungswut erweist sich der 1971 geborene Meese als genauer Arrangeur. Der Würfel war eine Auftragsarbeit, das Bühnenbild für Frank Castorfs Inszenierung von Pitigrillis „Kokain“ an der Berliner Volksbühne vor zwei Jahren. Dort hat Meese neuerdings auch das Foyer mit einem antimilitaristischen Ensemble aus Pimmel-Warriors bemalt. Ohnehin befindet sich die gestische Clownerie am Theater in guter Gesellschaft: Christoph Schlingensief hätte diese Mischung aus Brachialität, Hirngespinst und Bastelstube nicht besser hinbekommen.

Gleichzeitig zugänglich für jeden sein und doch der alten Idee vom Gesamtkunstwerk anhängen – dieser Spagat zwischen sozialer Plastik und Egomanie macht Meese und Schlingensief zu verwandten Seelen. Weil sein Anliegen einer Revolution durch Kunst oft als narzisstische Schaumschlägerei missverstanden wird, will Meese jetzt Manifeste verfassen, jeden Tag textet er zwei, drei Seiten. Später wird wohl ein Buch daraus, so wie das andere Dutzend, das als Bilanz aus zehn Jahren Kunstbetrieb ledergebunden in einer Vitrine der Deichtorhallen liegt. Aktuell können sich die Besucher ein Blatt als Fotokopie mitnehmen, richtig aufschlussreich für die Arbeiten ist es nicht. Aber der Sound stimmt: „Kunst ist ihre eigene Weltanschauung“, raunt es da, weil Meese für absolute Autonomie plädiert. Denn ihre „totale Freiheit“ bedeutet „automatisch dann totale Liebe“. So kraus schreibt er nicht nur, so redet er auch: „Es geht um Hierarchielosigkeit, der sich die Sachen unterordnen“, sagt Meese, wenn man ihn fragt, woran er sich bei seinen wüsten Materialansammlungen orientiert.

Was so liebestrunken radikal klingt, ist natürlich längst abgesegnet. Im Wust der Theorien finden sich solche Beschwörungen massenhaft auf Halde: Gottfried Benn hat in seinem „Roman des Phänotyps“ den Künstler als einzig wahren Vertreter eines „geheimnisvollen Nihilismus“ geschildert. Benns erhoffte Nähe zur Macht sucht Meese dann auch wieder nicht, ihm geht es um eine Störung des Betriebs, der sich in den letzten Jahren weg von den höheren Idealen und hin zur Abwicklung von Termingeschäften bewegt hat. Doch die Störung ist ebenfalls abgesegnet, ja erwünscht: Nicht von ungefähr hat sich Friedrich Christian Flick mit dem wilden Meese in der Paris Bar fotografieren lassen. Wenn das System wie geschmiert funktioniert, können ein bisschen Krawall und ein bisschen Rock-'n'-Roll-Schwindel nicht schaden.

Manchmal sieht es bei Meese vor lauter Zierrat eher brav, wie auf einem Flohmarkt aus. Nur dass die unzähligen Zeichnungen und angegilbten Bücher nicht auf Wolldecken ausgebreitet sind, sondern in Vitrinen liegen. Wer mag, findet autobiografische Hinweise: Hörspielkassetten für Kinder, Ritterrüstungen, pornografischen Trash. In seiner Jugend hatte Meese eine kubistische Phase, davon zeugen die leicht naiven Bilder, mit denen er sich Mitte der Neunzigerjahre an der Kunstschule bewarb.

Doch die Akademie lehrte ihn schnell, worauf es ankommt: Nach kurzer Zeit bestehen seine Gemälde aus mathematisch penibel angelegten Systemen. In der Chronologie wirken sie in Hamburg wie der Beleg für einen verengten Erfahrungshorizont, wie die Zurichtungen eines kreativen Geistes im starren Regelwerk der Akademie. Gleichwohl hebt sich vor diesem Hintergrund die exzessive Einverleibung von noch so abseitigem Bilder- und Bildungsstoff als Befreiungsschlag ab.

Die fröhliche Unmittelbarkeit, mit der Meese Trümmer um Trümmer auftürmt, passte gut ins Konzept einer jungen deutschen Kunstszene. Maßlos statt minimal, mehr Giftküche als Büroetage – das war der Spirit, den Meese bei Ausstellungen wie der ersten Berlin Biennale 1998 verkörperte. In seiner labyrinthisch wuchernden Image-Höhle trafen sich Zitate aus Kunst, Pop, Literatur und B-Movies. Es gab Ähnlichkeiten mit Arbeiten von Dieter Roth, überhaupt mit den Stillleben des Verfalls, die Fluxus in den Sixties hervorgebracht hatte. Doch aus Meeses Rauminstallation war alles Organische verbannt: ein Mausoleum kultureller Zeichen, die Resterampe des 21. Jahrhunderts.

Zerfasern und verkrümeln

Seither bewegt er sich von einer Überbietung zur nächsten. 1999 war Meese mit kräftezehrenden Performances unterwegs, für die er die Herrscherposen von Hitler oder Stalin oder dem Diktator Zardoz aus dem gleichnamigen Science-Fiction-Film übernahm, um sie ins Absurde zu steigern. Jede Stilisierung ist zugleich eine Parodie, von der er heute sagt: „Es geht um Zerfaserung, alles wird verkrümelt.“ Dass er mitunter über das Ziel hinausschießt und etwas zu lautstark in seiner Rolle als Ghostbuster der Geschichte aufgeht, stört ihn kaum. Dann wieder hört es sich sehr poetisch an, wenn Meese erzählt, warum ihm am Spiel mit der Maskerade und den immer neuen Inkarnationen – als Künstlerlegende Balthys oder als Stanley Kubrick – gelegen ist: „Während man durch die Kunst rast, bleibt für den Moment eine Deformation, und wenn nur als Pulverstaub.“

Dieser Pulverstaub glitzert nun in aller musealen Pracht. Jeder Winkel wurde in Hamburg genutzt. Es gibt eine Reihe mit rasch aus dem Handgelenk hingeworfenen Immendorff-Porträts, von einer Performance ist eine Gasmaske übrig geblieben, weiter hinten in einem Kabinett sind Büsten versammelt, die für eine Kirchentagsausstellung gegossen wurden. Plötzlich blickt man einem traurigen Tod ins Gesicht, der doch das Konterfei von Nietzsche sein soll, und vergisst diese Begegnung nicht. Andere Bilder sind bloß albern, wenn ein Strichmännchen-Dandy in roter Fingerfarbe den Namen „Noel Coward Meese“ trägt.

Reliquie, Memorabilia, Nippes – was auf den ersten Blick ziemlich messy wirkt, ist eine durchaus starke künstlerische Behauptung: dass man das Chaos, in dem man lebt, zulassen soll und auch aushalten kann. Nach Jahren der Dekonstruktion und gebrochenen Subjekte nimmt Meese einfach Urlaub im Ich: Malerei, Skulptur oder Performance sind nicht das Ergebnis von sorgfältiger Reflexion, sondern zufällige Gestalten einer rohen Energie, die kein Diskurs gebändigt kriegt. Meese revoltiert, indem er unentwegt mehr und mehr produziert, sodass nie Ordnung einkehren kann – was kümmern da noch die feinen Unterschiede einzelner Werke? Seine Gemälde zählen mittlerweile über tausend, Bronzeskulpturen entstehen gleich dutzendweise.

Der inflationäre Output mag einer Galerie wie Contemporary Fine Arts, die ihn in Berlin vertritt, einiges an Bauchschmerzen bereiten. Zugleich ist er Meeses vorrangiges Markenzeichen. Je unermüdlicher und ausufernder seine Aktivitäten, desto mehr gerät daher die Produktion selbst zum magischen Anziehungspunkt für die entsprechende Sammlerklientel – als würde man mit dem Besitz einer Arbeit an der Aura ihres Entstehungsprozesses teilhaben.

Womöglich hat er dennoch die Rechnung ohne den Wert gemacht. So wäre Meeses rasante Karriere nicht ohne die Leidenschaft eines Harald Falckenberg denkbar. Der Harburger Unternehmer gehörte zu Meeses ersten Sammlern – auch weil er sich für Kunst interessiert, die, das ist Falckenberg wichtig, auf „zivilen Ungehorsam“ abzielt. Das können namenlose Graffiti-Sprayer vor Ort sein oder Cheap-Art-Künstler wie 4000, dessen archaische Krakel – was den Marktwert betrifft – weit von Meeses Großkünstlertum entfernt sind. Am Ende schimmern in den Deichtorhallen bei aller Eventförmigkeit noch die Roots durch, auf die man sich in Hamburg querbeet vom gut situierten Mäzen bis zur Pudelclub-Posse einigen kann: St. Pauli, Hiphop, Hafen. Und Meese. Schließlich hat er mit seiner Ausstellung für diese Gemengelage aus Sehnsucht, Störtebeker-Romantik und großer Freiheit den passenden Namen gefunden: „Mama Johnny“. Klingt mehr nach Hans Albers als nach Joseph Beuys.

Bis 3. 9., Deichtorhallen, Hamburg