Trotz UN-Rat: Die Menschenrechte haben derzeit keine Konjunktur
: Wenn „Freiheit“ zum Kriegsgrund wird

Es steht schlecht um die Menschenrechte. Unter der grellen Catchphrase des „Krieges gegen den Terror“ ist vieles möglich geworden, was noch vor wenigen Jahren unmöglich erschien. Die führende Macht des Westens hat den Antifolterkonsens aufgeweicht; zu besichtigen war das Resultat auf den scheußlichen Bildern aus Abu Ghraib. Wer irgendwie verdächtig ist, verschwindet in Folterkellern und Zonen der Rechtlosigkeit zwischen Guantanamo Bay und Bagram Air Base in Afghanistan. Mehr noch: Angesichts des globalen Fokus auf Terrorabwehr kann man sich natürlich nicht mehr auf lächerliche Petitessen konzentrieren. Ein kleiner Halbgenozid in Tschetschenien, ein bisschen Verfolgung der Uiguren in China – wen kümmert’s? Versunkene Zeiten, als sich ein paar Gutmenschen noch darüber empörten, dass in den USA Schwarze nicht vorne im Bus sitzen durften oder in Südafrika ein paar Parkbänke für Weiße reserviert waren.

Es steht gut um die Menschenrechte. Sehr gut sogar. Die zynische „Realpolitik“ ist ins Gerede gekommen. Vollbracht haben dieses Werk in unbewusster Einigkeit liberale Linke und neokonservative Rechte. Erstere haben aus den Massakern und Genoziden von Srebrenica und Ruanda die Lehre gezogen, dass man groben Menschenrechtsverletzungen nicht einfach zusehen darf – man muss sie stoppen, wenn möglich und wenn nötig auch mit militärischer Gewalt. Die neokonservative Menschenrechtsoffensive ist wiederum Ergebnis der Erkenntnis, dass die Kooperation mit finsteren Regimes wie zum Beispiel Saudi-Arabien nicht etwa dem Ansehen des Westen nützt (weil er damit etwa Respekt vor fremden Lebensarten bewiese), sondern schadet – die auf „nationalen Interessen“ orientierte Realpolitik hat, in the long run, negative Auswirkungen auf „nationale Interessen“ der westlichen Führungsnationen, allen voran der USA. Toll: Die Menschenrechte sind zum Kriegsgrund geworden. Die Blutsäufer unter den Diktatoren dürfen sich nicht mehr sicher fühlen.

Steht es jetzt also eher gut oder eher schlecht um die Menschenrechte? Das Paradoxe: Beide Erzählungen sind wahr. Zeigt das nur, dass die Wirklichkeit nie völlig eindeutig ist? Oder steckt hinter der Inkommensuralität dieser beiden Lesarten womöglich eine eigene, verborgene Wahrheit?

Einerseits ist unübersehbar: Selbst eine vordergründig auf dem „Unilateralismus“ und ihrem „Recht zum Handeln“ pochende Weltmacht wie die USA unter der Bush-Regierung hängt viel mehr von der „Weltmacht Nr. 1“ ab, nämlich der internationalen öffentlichen Meinung, als frühere Administrationen. Auch sie muss ihr Handeln vor einer übernationalen Öffentlichkeit mit universalen ethischen Prinzipien begründen und kann sich nicht einfach mehr auf Hegemonialinteressen berufen. Andererseits sind der linksliberale Menschenrechtsbellizismus und die neokonservative Doktrin von der Ausbreitung von Freiheit und Demokratie über die Welt nur vordergründig identisch. Die Differenzen sind entscheidender, als bislang den meisten noch aufgefallen ist.

Die Interventionen mit militärischen Mitteln der späten Neunzigerjahre, um Chaos und ethnische Bürgerkriege zu befrieden – von Bosnien über Osttimor bis zum Kosovo –, hatten tatsächlich die „Menschenrechte“ als Schlüsselwort, die Bush-Doktrin spricht dagegen von „Demokratie“. Kein Zufall, dass man in Washington recht abfällig von den „liberal wars“ spricht.

Dem Menschenrechtsbellizismus ging es um das Ziel der Etablierung irgendeiner Ordnung, nicht um den Export einer bestimmten. Er war getragen von einer Dringlichkeit, die zumindest jeder verstehen konnte – die Interventionen waren wirklich das, was man das „letzte Mittel“ nennt.

Der benevolente Interventionismus des „wohlmeinenden Imperium“ USA geht aber viel weiter, und die Differenz ist fatal. Er will viel mehr: eine freiheitliche Ordnung global verbreiten. Die Menschenrechte werden damit aber plötzlich zur zweitrangigen Sache.

Mit einem Mal zieht sich ein unguter Diskurs durch die internationale Debatte: dass man für die Etablierung der Freiheit von morgen heute einen Preis zu bezahlen hat; dass das welthistorische Ziel mit ein paar Toten doch wohl nicht zu teuer bezahlt ist; dass dort, wo gehobelt wird, eben Späne fliegen. Der Diskurs von der Verbreitung der Demokratie hat so, von seinen Protagonisten wohl nicht einmal gewollt, die Menschenrechtspolitik nicht in die Offensive, sondern in die Defensive gebracht. ROBERT MISIK