Make Couscous, Not War

GESCHICHTE Abschottung durch Hightechsysteme oder gemeinsamer kultureller Raum? Der britische Historiker David Abulafia und seine große Studie „Das Mittelmeer. Eine Biographie“

In der Vielfalt, nicht in der Einheit, möchte David Abulafia die Stärken des Mittelmeerraums verstanden wissen. Eine Vielfalt, die unablässig äußeren Einflüssen ausgesetzt ist und sich daher in ständigem Fluss befindet

VON SUSANNE KAISER

Mare nostrum, „unser Meer“, nannten es die Römer. Ob sie damit ein Bewusstsein darüber zum Ausdruck brachten, dass das Mittelmeer mit anderen Völkern geteilt werde, oder im Gegenteil einen Besitzanspruch artikulieren wollten, nach welchem ihnen allein das Meer gehören sollte, ist nicht überliefert. Der alte Begriff umreißt aber eine aktuelle Problematik: Handelt es sich beim Mittelmeer um einen Raum der gemeinsamen Identität und Vergangenheit oder markiert es vielmehr eine Grenze zwischen Kulturen, Nationen und Religionen?

Die EU-Politik, die mit ihren neuesten Beschlüssen die Grenzen gegen „illegale Migration, Menschen- und Drogenhandel“ mittels des Überwachungsprogramms Eurosur und der Sicherheitsagentur Frontex abzuriegeln versucht, legt Zweiteres nahe. Angesichts dieser jüngsten Entwicklungen werden kritische Stimmen lauter, die eine von Intellektuellen geführte Debatte über die Zukunft des geteilten Mittelmeerraums und Alternativen zum Kulturverständnis eines clash of civilizations fordern.

Vor diesem Hintergrund ist David Abulafias Buch „Das Mittelmeer. Eine Biographie“ zu sehen, das mit seinem historischen Ansatz dazu beitragen soll, die Probleme der Region besser zu verstehen und vielleicht lösen zu helfen.

Komplizierte Verflechtung

Als Professor in Cambridge beschäftigt sich Abulafia seit Jahrzehnten mit der Geschichte des Mittelmeers und den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verflechtungen, die diese Region bewegen. Historisch gesehen, so argumentiert er, ist die Phase der Desintegration, von der das Mittelmeer aktuell geprägt ist, eine Ausnahme. Sein Buch erzählt daher eine Geschichte, in der das Gebiet zu verschiedenen Zeiten zu einem einzigen wirtschaftlichen, kulturellen und bisweilen sogar politischen Raum wurde, eine „Geschichte von Konflikten und Kontakten“. Genauso interessieren Abulafia die Umstände, unter denen solche Integrationsphasen ein manchmal gewaltsames Ende fanden, etwa durch Kriege oder Seuchen.

Im Mittelpunkt stehen diejenigen, die das Meer befuhren und dabei Waren und Ideen zirkulieren ließen. In viel größerem Maße als sein berühmter Vorgänger Fernand Braudel (1902 bis 1985), dessen 1949 erschienenes Buch „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“ eines der einflussreichsten Geschichtswerke des 20. Jahrhunderts darstellt, geht der Historiker aus Cambridge davon aus, dass es der einzelne Mensch, der die Geschichte des Mittelmeers maßgeblich mit geprägt hat. Der Originaluntertitel „A Human History of the Mediterranean“ wurde im Deutschen etwas verkürzt mit „Eine Biographie“ wiedergegeben.

Wo Menschen sich begegnen, Kulturen sich vermischen und neue Identitäten entstehen oder sich gegeneinander abgrenzen, da kommt es naturgemäß auch zu Spannungen und Konflikten. Doch war die Mittelmeerregion vielleicht niemals zuvor in ihrer Jahrtausende währenden Geschichte derart disparat. „Zurzeit ist das Mittelmeer zerrissen, zerstückelt und zerbrochen“, so beurteilt Abulafia den Status quo.

In dem langen Zeitraum von 2200 vor bis 2010 nach Christus, den der Historiker betrachtet, lassen sich zahlreiche Beispiele für Auflösungserscheinungen finden. So etwa mit dem Zerfall des Römischen Reichs, der den Mittelmeerraum zwischen 400 und 800 nach Christus wirtschaftlich und politisch aufspaltete, nachdem sich das Machtzentrum mit den ökonomischen Realitäten nach Osten verlagert hatte.

Beziehungsreanimation

Abulafia beschreibt damit den Übergang vom zweiten zum dritten von insgesamt fünf „Mediterranen Zeitaltern“, in welche er die Geschichte des Mittelmeers unterteilt. Jedem Zeitalter wird dabei dieselbe Aufmerksamkeit gewidmet – das Werk setzt auch in dieser Hinsicht neue Maßstäbe. Angesichts der aktuellen Lage der Mittelmeergegend spricht sich Abulafia dafür aus, die gegenüberliegenden Ufer wieder zusammenzuführen und die Beziehungen zwischen den Ländern zu reanimieren. Natürlich gibt es bereits Ansätze, den „integrierten Mittelmeerraum vergangener Zeiten“ wiederherzustellen und die lange Zeit praktizierte, nun aber verlorene convivencia, das Zusammenleben zwischen Juden, Christen und Muslimen wiederzubeleben.

Auf politischer Ebene allerdings liegen in diese Richtung zielende Unterfangen brach. Aus dem „Barcelona-Prozess“ von 1995 entstand im Jahr 2008 die Mittelmeerunion, die den Fokus weg von den Differenzen der einzelnen Mittelmeernationen hin zu gemeinsamen politischen, ökonomischen und kulturellen Interessen lenken sollte, um so für nachhaltige Stabilität in der Region zu sorgen. Doch scheitert ihre Handlungsfähigkeit regelmäßig an enttäuschten Hoffnungen, wie etwa im Fall der Türkei oder der Maghrebstaaten, die in der Mittelmeerunion einen schwachen Ersatz für eine angestrebte EU-Mitgliedschaft erblicken.

Abulafia verdeutlicht, dass die scheinbar unüberwindbaren, fundamentalen Unterschiede zwischen der EU und vor allem den orientalischen Nachbarn erst eine Entwicklung des 20. Jahrhunderts darstellen. Noch im 19. Jahrhundert war vielerorts das Idealbild die „Vereinigung des Ostens und des Westens: eine physikalische durch den Suezkanal, aber auch eine kulturelle, denn Westeuropäer fanden großen Gefallen an den Kulturen des Nahen Ostens“.

Dabei bestehen die tatsächlichen Unterschiede viel weniger zwischen einer „okzidentalen“ und einer „orientalischen“ Kultur und Lebensweise als vielmehr einer unterschiedlich entwickelten Staatlichkeit. Und dies ließe sich ändern. Auch jetzige Nationalstaaten wie Italien zeigen sich bei genauerem Hinsehen als sehr heterogen. Im Falle Süditaliens von Neapel abwärts könnte man manchmal glauben, es hätte wirtschaftlich und gesellschaftlich mehr mit Algerien gemein als mit den feinen Städten des italienischen Nordens wie Mailand oder Florenz. Tunis, die Hauptstadt Tunesiens, hingegen könnte genauso gut in der Toskana liegen – nordeuropäische Touristen würden das kaum merken. Aufgrund der wirtschaftlich schwächeren Situation Süditaliens waren norditalienische Städte in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts das bevorzugte Ziel von Wanderbewegungen aus dem Süden. Dies sorgte dafür, so Abulafia, dass die ohnehin unter Vernachlässigung und mangelnden Investitionen leidende süditalienische Landwirtschaft noch weiter verfiel.

Alte Verbundenheit

Einige Sizilianer fühlen sich deshalb so manchmal eher mit Nordafrika verbunden, das auch geografisch um einiges näher liegt, als mit Norditalien. Dies zeigt sich auch in kulinarischen Gemeinsamkeiten. So wird in dem kleinen Ort San Vito lo Capo alljährlich ein Fest zu Ehren des Couscous begangen. Couscous ist seit der muslimischen Zeit Siziliens, die im 9. Jahrhundert begann, fester Bestandteil der dortigen Küche. 2010 lautete das Motto des völkerverständigenden Couscous-Festivals: „Make Couscous, Not War“.

In diesem Sinne, in der Vielfalt statt der Einheit, möchte auch Cambridge-Professor Abulafia die Stärken des Mittelmeers verstanden wissen: „Die bei den Menschen anzutreffende ethnische, sprachliche, religiöse und politische Vielfalt war unablässig äußeren Einflüssen aus Übersee ausgesetzt und befand sich daher im Fluss. Von den ersten Siedlern auf Sizilien bis hin zu den Bettenburgen an Spaniens Küsten waren die Ränder des Mittelmeeres stets Treffpunkt von Menschen unterschiedlichster Herkunft“.

Genau diese großartige Kontaktzone ist in Gefahr, wenn ihr mit Satellitenüberwachung, Stacheldraht und Grenzpatrouillen zugesetzt wird. Abulafias Geschichtsschreibung erinnert daran, dass die heute dominierende Weltsicht nicht die einzig mögliche ist.

David Abulafia: „Das Mittelmeer. Eine Biographie“. Deutsch von Michael Bischoff. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 960 Seiten, 34 Euro