POST BEIM ANWALTSBÜRO
: In dubio pro reo

Okay, denke ich, dann krieg ich halt zwei Pakete am Tag

Unten an der Haustür hängt ein Paketzettel für mich. Das find ich komisch, weil der Postbote gerade bei mir oben war und ein Paket abgegeben hat. Ich nehm den Zettel und geh damit schnurstracks zum Anwaltsbüro bei uns im Haus, nicht weil ich den Postboten verklagen will, sondern weil mein Paket da sein soll. Als mir die Anwältin dir Tür öffnet, frag ich sie etwas misstrauisch: „Ist hier ein Paket für mich?“

Sie nickt. Okay, denke ich, dann krieg ich halt zwei Pakete am Tag; ist ja auch Geschenkezeit. Aber dass der Postbote nicht gleich beide mit hoch gebracht hat, finde ich blöd.

„Blöd“, sag ich also zur Anwältin. „Das ist Paket Nummer zwei. Das erste hat er mir hochgebracht.“ Ich unterbreite ihr meine Theorie: „Und erst als er wieder unten war, hat er gemerkt, dass er eigentlich zwei hat für mich. Und dann keine Lust, gleich noch mal die 84 Stufen …“

„Nein“, unterbricht mich die Anwältin. „So war es nicht.“

„Nee?“, frag ich gespannt. Sicher verteidigt sie ihn jetzt, von wegen im Zweifelsfall für den Angeklagten und so. Und richtig, sie eröffnet ihr Plädoyer. „Der Postbote ist neu“, sagt sie. Ja, denke ich, aber deswegen nicht unschuldig. „Der kennt sich noch nicht so aus hier“, redet sie weiter. Okay, denke ich, aber … „Er dachte, du wohnst hier.“ Ich schau über ihre Schulter in ihr Büro. Ihr Büro sieht aus wie ein Büro und nicht wie eine Wohnung. Minuspunkte für den Postboten.

Aber dann bringt die Anwältin eine überraschende Wendung. „Ich hatte meine Brille nicht auf“, sagt sie. „Ich konnte deinen Namen nicht lesen und dachte, es wäre für mich. Und weil ich schon unterschrieben habe“, nimmt sie die Schuld auf sich, „habe ich auch das Paket bekommen und du einen Zettel an der Tür.“ Ich bin beeindruckt, schweige kurz, lasse ihre Rede wirken. „Okay“, sag ich dann, nicke und nehm mein Paket. Unschuldig. Okay. JOEY JUSCHKA