Er ging bis ans Äußerste

TAZ-ADVENTSKALENDER Berlin ist blau, grau, gelb, seniorenfreundlich, haarig, neblig, wie LSD, pophistorisch versiert, was für Hunde und sogar schiffbar, wie der Fotograf Fred Hüning festgehalten hat. Er ist für die taz im Dezember einmal quer durch die Stadt gelaufen – entlang der B 1

1 Glienicker Brücke: „10 Uhr morgens, 2 Grad Außen-, 6 Grad Wassertemperatur, sonnig. So viel ist sicher. Alles andere ist offen.“

2 Helmholtz-Zentrum: „Vielleicht darf ich einen leibhaftigen Kernforscher porträtieren. Ein Wesen mit metallischer Stimme fängt mich schon am Zaun ab. Heimlich gelingt mir ein Bild.“

3 Adventsmarkt im Seniorenzentrum an der Königstraße 25: „Höhepunkt: das Konzert mit Christian Anders. Der 68-jährige Schlagerstar, Filmschauspieler und Buchautor rockt das Heim.“

4 Wannsee–Kladow: „Käpt’n David hat eine 14-Stunden-Schicht. Solange der Wannsee nicht zufriert, wird er fahren. Stoisch, mit klarem Blick, immer auf der Hut vor einem Eisberg.“

5 Waldfriedhof Zehlendorf: „Tagträume mir imaginäre Gespräche. Vom Wind zugetragen. Wirklich schön hier. Und Willy hat Rosen mitgebracht, für Hilde.“

6 Potsdamer Chaussee: „Ich treffe auf Kirsten (47), Bino (16), Ließchen (11), Elvis (7), Betty (3) und Whitey (1). Nein, sie sei keine Hundesitterin – ‚alles meine eigenen‘.“

7+8 Hotel Bogota, Schlüterstraße: „Arbeitseinsatz. Bis Heiligabend müssen alle 115 Zimmer geräumt sein. Ich hänge in der vierten Etage die Bilder ab.“

9 Antiquariat „Bücherhalle“, Hauptstraße: „Ich kaufe ein Fotobuch. Zum Abschied imitiert die elegante Frau Volz für mich aus dem Stegreif ein berühmtes LP-Cover von David Bowie.“

10 Potsdamer Straße 199: „Aus einem Schaufenster schauen mich Audry, Beyoncé, Britney, Candie, Ebony, Jealousy, Lady Gaga I, Rihanna und Scarlett mit großen Augen an.“

11 Galerie Thomas Fischer, Potsdamer Str. 77–87: „Seiichi Furuya kombiniert Fotos seiner Frau mit Aufnahmen aus der DDR – als ‚Requiem für zwei Tote‘.“

12 Potsdamer Platz: „Beim Anblick des Tannenbaums mit seinen 9.000 bunten Kugeln kommt wieder der kleine Junge vom Lande in mir hervor – ich gebe mich dem Staunen hin.“

13 Jüdenstraße Ecke Grunerstraße: „Die Stadt verwandelt sich gegen Mittag in eine riesige Waschküche, die alles Hässliche, Laute, Aggressive dieser Gegend verschwinden lässt.“

14+15 Karl-Marx-Allee 3: „Direkt vor dem Haus der Gesundheit lockt die Imbiss Oase mit China Snack Döner.“

16 Karl-Marx-Allee: „Ich treffe die Herren Selke (30) und Hartke (78) vom Ernst-Busch-Chor, Altersdurchschnitt: 72 Jahre. Herr Selke soll als neuer Leiter für frischen Wind sorgen. “

17 Straße der Pariser Kommune: „Ich besuche meine Künstlerkollegin Karen Stuke. Für ihre Serie ‚Sleeping Sister‘ fotografiert sie mich mit ihrer Camera obscura.“

18 Theater an der Parkaue: „Auf dem Dach genießt Marie Gesien den L.A.-tauglichen Sonnenuntergang. Sie hat heute zweimal die Gerda in der ‚Schneekönigin‘ gegeben.“

19 Frankfurter Allee/Ruschestraße/Normannenstraße/Alfredstraße: „Ich schwöre: Habe noch nie so viele Überwachungskameras auf einem Haufen gesehen.“

20 Tierpark Friedrichsfelde: „Am Ende doch noch ein kleiner Höhepunkt: die seltenen Kohlquallen. Treten nur im Rudel auf und ernähren sich ausschließlich von Seekühen.“

21+22 Gnadenkirche: „Pfarrer Geiger will die Kirche eines Tages beleuchten, um trostsuchenden Autofahrern den Weg zu weisen. One day, oh Lord.“

23 Butzer See: „Die Suche nach dem Sinn des Lebens spielt für immer weniger Menschen eine Rolle. Für Konstantin ist das Leben randvoll mit Sinn. So viele erste Male stehen bevor.“

24 Alt-Mahlsdorf: „Ende der Wanderung. Auch der Fußgängerweg endet hier abrupt, am Straßenrand liegt Wohlstandsmüll. Aus ästhetischen Gründen verbietet sich ein Foto.“