Sehnsucht nach der Unterschicht

HEIMWEH Gehobene Bilderbuchfeste sind auch nicht das Wahre – irgendeiner heult schließlich immer

VON ANTJE BASEDOW

„Driving Home for Christmas“, und auf dem Rücksitz die Geschenke für die Lieben, möglichst kreuzt noch eine Schlittenkutsche durch die verschneite Landschaft, was aber lachend vor Freude und Vergebungslaune zur Kenntnis genommen wird. Irgendwo erklingt eine Glocke, während in die heimatliche Auffahrt eingebogen wird. Zu Hause.

Alljährliche Sehnsuchtsbilder. Hände, die sich am Becher mit dem Heißgetränk wärmen, pustend, lachend, der Kälte trotzend, eine freche, verspielte Pudelmütze auf dem Kopf. Heute trägt das auch die erwachsene Frau. Die zum Ausdruck bringen will, sich ihre Kindlichkeit bewahrt zu haben. Manche Menschen mögen so was.

Aus der Kälte in die warme Stube treten, die schneeverschmutzten Stiefel abstreifen, darunter natürlich warme, bunte Wollsocken. Heimelig. Kamin und knisternde Holzscheite, mit strahlenden Augen hineinblicken und sich dabei in die erfrorenen Hände pusten, sie warm reiben. Mehlstaub. Plätzchen. Schneewehen. Georg Michael und „Last Christmas“, die Freunde auf der Skihütte. Überhaupt die ganzen Freunde natürlich, ein Fass voller Freunde, die nach dem Rumtollen im Schnee sich um den festlich gedeckten Tisch einfinden, um den aber nicht verspannt und schweigsam gehockt, sondern fröhlich und wild durcheinander gelacht, geplaudert, gealbert wird. Liebe, Freunde, Geborgenheit. Irgend so was.

Sehnsüchte. Weihnachtssehnsüchte. Geleugnet oder nicht. Und immer ist es anders. Natürlich. Lange Jahre glaubte ich ganz sicher, dass diese Bilder tatsächlich leben – in der guten Welt, in der Mittelschicht oder höher. Je höher, desto lebendiger. Bei uns, ganz unten, in der Unterschicht gab es weder Kamin noch Scheite. Kekse kann man günstig bei Penny kaufen, Backen ist eher unbekannt, wobei: Den fertigen Tortenboden mit einem halben Pfirsich, dafür über und über mit Gelee bezogen, den gibt’s schon. Sahne aus der Sprühdose. Ski fahren nur die Reichen. Und am Schluss sind alle besoffen oder heulen. Oder beides. Also galt lange Zeit all mein Bestreben, einmal ein solches Bilderbuchweihnachten zu erleben. Gern auch mit Kirche. Die gab’s bei uns auch nicht. Und im Gegensatz zur Mittel- und Oberschicht, die sich Zeit ihres Lebens gegen die Kirche abgrenzen, sich zumindest mit ihr auseinandersetzen muss, hatte ich mit der Kirche wenig zu tun, bei mir reichte es nicht mal zum Atheismus.

Haben wir es nicht schön?

Im Laufe der Jahre wurde ich mehrfach am 24. Dezember adoptiert. Von den guten Familien. Und musste feststellen, dass auch hier meine Bilder nur Bilder waren. Die Gans, die ich nun wirklich gern gegessen hätte, war wohl nicht den Vorstellungen entsprechend gebraten, was zu Spannungen führte. Ohnehin das Essen! Es hätte so lecker sein können. Wenn wir es doch nur einfach hätten essen können. Verspanntes Um-einen-Tisch-Hocken und betonen, dass es wirklich unheimlich schön ist. Ist es nicht schön? Ja, es ist wirklich schön. War es letztes Jahr eigentlich auch so schön? Sag doch mal. War es da nicht auch schön? Ja, auch. Aber doch nicht ganz so schön wie dieses Jahr. Sag doch mal. Dieses Jahr ist es wirklich ganz besonders schön. Leider ist das Gemüse vielleicht etwas verkocht, was für ein Ärger. Ist es sehr verkocht, oder geht es noch? Wie ärgerlich. Aber wirklich, wenn es verkocht ist, dann sagt es ruhig. Ihr müsst es nicht essen dann. Ausgerechnet heute.

Ein großer Ärger. Aber sonst ist es doch lecker, oder? Schmeckt es denn? Sind die Dips nicht zu scharf geraten? Sie passen eigentlich so gut zum Fleisch, aber wenn sie zu scharf sind, schmeckt man ja das ganze Fleisch nicht mehr. Wie ärgerlich. Wie schade. Gerade heute. Sonst gelingen sie doch immer. Warum denn gerade heute nicht. Da mag selbst ich nicht mehr essen. Und ich kann immer essen. Aber nun geht mir der Hals zu. Und die Geschenke, sind sie nicht schön? Haben wir es nicht schön? Sitzen wir hier nicht beisammen um einen Baum, aber locker und entspannt? Hier ist es doch nicht verspannt, oder findest du es verspannt? Nein, es ist nicht verspannt, es ist schön. Und guck, da ist auch der Kamin. Mit Scheiten drin. Die knacken. Warum will das denn niemand sehen? Nimmt denn niemand hier wahr, wie gemütlich alles ist. Und Liebe gibt es auch. Schau, wie ich meinen Mann liebevoll angucke und er mich doch auch. Ich lege meine Hand auf seine. Haben wir es nicht gut? Kinder, nun guckt doch mal ein bisschen anders. Haben wir es nicht schön? Ja, wir haben es schön.

Nein, das ist auch nicht „Driving Home for Christmas“. Auch hier ist Sehnsucht nur Sehnsucht, auch wenn die passenden Bilder dazu leichter nachgebildet werden können.

Wenn schon Heimweh, dann das echte. Dann fahre ich zurück in meine Heimat „Unterschicht“. Dahin, wo die Fenster zugepflastert sind mit blinkender Lichtdeko, bis auf das letzte freie Plätzchen, Wechselblinktechnik von Lila zu Rot zu Grün zu Gelb und wieder zurück. Schnell flackernd, versetzt flackernd, glimmend, blinkend. Aus Mangel eines Vorgartens oder irgendeiner anderen Fläche wird die Lichterkutsche mit den Rentieren davor einfach am Fenstersims befestigt. Ein aufblasbarer Weihnachtsmann passt auch noch darauf. Hier ist nicht „weniger mehr“, hier ist mehr mehr. Niemand sorgt sich um Stilfragen, „also so ein bisschen Lichter für die Gemütlichkeit, das gehört ja auch zur Jahreszeit irgendwie, aber zu viel, das ist dann doch nicht mehr schön und doch eher so ein wenig proletarisch“. Um nicht zu sagen asozial. Im Szeneviertel wird dezent und stilvoll geleuchtet. Mit sparsamer Deko von Habitat. Ikea wäre „zu Massenware“. Man legt ja Wert auf Individualität. Wie alle anderen auch.

Hier in meiner Unterschichtherkunftsgruppe, in meiner Hartz-IV-Hochburg, wird das Monatsalmosen umgesetzt in die Sehnsucht. Blinkende Sehnsucht nach etwas Schönerem als all dem hier. Es möge schöner sein als die Wirklichkeit. Bitte mach, dass es schöner wird. Wer auch immer. Ganz egal. Aber mach. Also her mit den bunten Lichtern!

Wie oft habe ich das gehört, den Aufschrei des Bürgers: „Und da heißt es immer, die haben kein Geld. Aber Geld für so einen Quatsch, den haben sie. Dann kann es ihnen gar nicht so schlechtgehen. Wenn sie kein Geld hätten, würde sie sich statt dieses Energiewahnsinns, den sie da betreiben (die Mittelschicht findet das Thema Energiewende und Nachhaltigkeit unheimlich spannend. Wer ist da mehr zu bedauern?), wenn sie also kein Geld hätten, dann würde sie sich jedenfalls was Anständiges zu Essen kaufen.“

Falsch. Sehnsucht, Hoffnung und tröstende Fantasiebilder sind hier existenzielle Nahrung. Und die Devise heißt: Feiern, wenn es was zu feiern gibt! Rausch für mich statt Brot für die Welt. Sparen muss ich nicht, denn morgen bin ich wahrscheinlich ohnehin tot.

Es ist die Unterschicht, die die Elektromärkte stürmt und die Regale leerräumt – legal oder illegal, scheißegal, irgendwie muss man rankommen an das iPad und den iPod. Oder glaubst du, man kann sich auf der Straße sehen lassen mit so einem veralteten Idiotenteil? Nein, wenn schon, denn schon. Hast du iPhone, ist gut. Hast du nicht, scheiße. Aber Billighandy – peinlich, Alter.

Während man im Szeneviertel, in den guten Häusern komsumkritisch und nachdenklich Halbheiten begeht. Maßvoll. Langweilig.

Also iPhone, Fenster, aus denen man nicht mehr gucken kann, Rundstück warm, Heino singt „Heilige Nacht“ aus der Konserve, denn auch wir wissen, was Weihnachten ist, und dann Prost. Tränen gibt es eigentlich immer, und Geschenke fliegen möglicherweise durchs Wohnzimmer wie die Fäuste. Die Enttäuschung, dass die Welt nicht anders wird am 24. Dezember, dass das Geld viel zu früh alle ist, um sich die Traurigkeit wegzushoppen, dass ohnehin nichts so ist, wie es sein sollte, diese Enttäuschung ist hier spürbar, sichtbar, deutlich. Wahr. Pur. In der guten Welt, in der Mitte und höher, ist es verschwommen und weniger fassbar, und die gebratene Gans steht die ganze Zeit zum Greifen nah auf dem festlich gedeckten Tisch, und man versteht nicht recht, warum man sie nicht essen kann, warum sie einfach nicht schmecken will, wo sie doch so gut aussieht. Da ist es mir lieber, mit unerträglichen Fensterlichtern die Sehnsucht rauszuhauen, es möge bitte anders sein, als es ist.

Antje Basedow, 42, Autorin, Performerin und Kabarettistin, feiert Weihnachten in Hamburg zwischen Harburg und St. Pauli, mit vielen DVDs und Büchern