25 Tage

Erst die Gänsehaut. Dann Schüttelfrost. Die Übelkeit. Weihnachten in einer Stadt, die Kassel sein könnte oder Mainz

VON SONJA VOGEL

Es ist Weihnachten. Zumindest da, wo ich sitze. Zuhause ist einfach Donnerstag. Hier jedoch gilt, zumindest zur Weihnacht, der orthodoxen Weihnacht, der julianische Kalender. Ich sitze in einem überheizten Badezimmer, in einer fremden Stadt, in einem fremden Land, den Po ins Plüsch des Toilettendeckelüberzugs gedrückt. Der Deckel trägt ihn, damit er nicht friert. In Novi Sad, Serbien, in der Tiefebene der Vojvodina hat es minus 15 Grad.

Ich friere. (Irgendwo, eineinhalb tausend Kilometer weiter streift meine Mutter, oder eine andere Mutter, ihr Nachthemd über, das sie auf der Heizung vorgewärmt hat.) Die kahle Glühbirne baumelt an einem langen Kabel von der Decke herab. (Und mein Vater, oder ein anderer Vater, zieht sich zurück, ins Wohnzimmer, oder ins Arbeitskabuff oder ins Dachgeschoss, um sich den immergleichen Pornoclip reinzuziehen.) An der Decke zeichnen sich braun die Ringe der Wasserflecken ab. Mein Kopf liegt im Nacken, kraftlos, die Verbindung zum zentralen Nervensystem gekappt. (Mein älterer Bruder, vielleicht Ende zwanzig oder vielleicht auch schon dreißig, ist auf einer Jingle Bells-Party im Studentenkeller oder im Club der Universität.)

Die Decke wächst nach oben, und das kleine, vollgestopfte Badezimmer zieht sich ganz lang, links streckt sich die alte Emaille-Badewanne mit einem langen Riss am Kopfende, rechts krümmt sich die noch ältere Waschmaschine Marke Bosch und am hintersten Ende, furchtbar weit entfernt: die Tür mit dem kleinen schiefen Eisenriegel. (Das alles passiert irgendwo in einer mittelgroßen Stadt, die Kassel sein könnte, Mainz oder auch Erfurt.) Die filzigen Fransen des Flors wachsen an meinen nackten Schenkeln empor, bahnen sich den Weg durch das Miniaturdickicht empfindlich aufgestellter Härchen. Dann winden sie sich wie Schlingpflanzen um meine Hüfte. Gänsehaut. Langsam werde ich hinabgezogen in einen Dschungel aus hellblauem Plüsch, schrumpfe, wie Alice, nachdem sie vom Zauberpilz gegessen hat. Meine Haut ist überreizt, eine Fläche von der Größe eines Fußballfeldes: Zwischen spitzen Knochen aufgespannt, eine hauchdünne Oberfläche, übersät mit Widerhaken aus Haar, die sich in Wellenbewegungen und wie auf Kommando aufrichten und wieder in sich zusammenfallen, kein Flaum, sondern eine Armee aus Millionen Drahtborsten, Lanzen, in den empfindlichen Boden gespießt, die nur darauf warten, ihre Wurzel zu kappen und loszustürmen, ihre Spitzen scharren, kratzen und scheuern, und jagen mir im Sekundentakt als piksender Schauer über den Körper. Meine geschlossenen Lider dämpfen das grelle Badezimmerlicht in ein angenehmes Blutrot. Die Augen schmerzen; wie Holzkugeln drehen sie sich knirschend in zwei trockenen Höhlen meines pochenden Schädels.

Als ich den roten Vorhang aus pulsierender Haut hebe, ist er da. Der Daumen. Meine Arme, schmal und blass, könnten ihn kaum umfassen, so groß ist er und so dick. Mein heißes Gesicht liegt auf der kühlen Fingerkuppe, wie auf einem ledernen Kissen. Die Oberfläche ist dick wie eine Zeltplane, schimmert fischig, als würde sie von der anderen Seite mit einer Taschenlampe angeleuchtet, sie hat die Struktur einer komplizierten Autobahnauffahrt, tiefe Rillen wie auf vergrößertem Vinyl, kalt wie die dicken blauen Turnmatten aus der verhassten Schulsporthalle. Ein gigantischer Zellhaufen, dessen Berührung mir den Magen flau macht. Und trotzdem ist er ein guter alter Bekannter. Der kolossale Daumen, der mich seit meiner frühsten Kindheit begleitet. Zuerst kommt er. Dann die Gänsehaut. Der Schüttelfrost. Übelkeit.

Am Morgen liege ich wieder in jenem Bett, aus dem ich mich in der vergangenen Nacht irgendwie ins Badezimmer geschleppt hatte, schweißverklebt und mit dem schlechten Gefühl, nicht mehr entkommen zu können, die ersten Halluzinationen meines Lebens im Schlepp wie eine zentnerschwere Stahlkugel am Knöchel. Das Gästebett steht im ehemaligen Kinderzimmer der Familie Milutinovic, auf Fischgrätenparkett, das unerträglich laut knirscht, hoch oben im 11. Stock auf dem Bulevar Oslobodjenja. Ein sozialistischer Hochhausbau der prosperierenden Sechziger, das Highlight: moderne Küche mit Durchreiche. Mein Bett ist 80 Zentimeter breit und viel zu kurz. Ich stecke unter Deckenbergen. Meterhoch und eine Last, die mir fast den Atem nimmt. Nein. Alles steht Kopf und ich liege auf den aufgetürmten Daunen. Und die unter mir.

Bevor ich mich ordnen kann, tritt hinter dem blinkenden Weihnachtsbaum aus pinkem Plastik und kompliziertem Stecksystem, der am Kopfende steht, meine Gastmutter hervor, in Schürze, Lockenwickler im ausgedünnten Haar. Ich sehe sie nur schemenhaft durch die schwarzen Gitterstäbe meiner Wimpern. Der blutrote Vorhang hängt über den Augen, so schwer, dass ich ihn nicht mehr hochgezogen bekomme. Die Gastmutter fasst mir an die Stirn und muss dabei aufpassen, dass sie nicht den Kontakt zum Boden verliert und mit dem Kopf auf die Decke fällt. Ihre Hand ist kühl, die Haut genauso zäh wie die blauen Turnmatten, auf die irgendwann, als ich (meine Schuld!) den Kopf nicht eingezogen hatte, das Blut von meiner Stirn tropfte, die mit so großer Wucht auf den Barren geknallt war, dass der Schädel knackte – immer mehr dickes Rot auf dickem Blau, das sich langsam in immer neue Rinnsale ordnete wie die Bilder in einem Kaleidoskop, tock ? tock ? tock. Tock, irgendwo in der ungeheizten Turnhalle jener Schule in Kassel oder Erfurt, bis mich die Turnlehrerin hochriss, beim Rennen schlugen mir ihre großen Brüste schwer wie Sandsäcke ins Gesicht.

Die kühle Hand trifft mich scharf wie eine Ohrfeige, macht, dass die Armee der Borsten vorwärtsspringt, alle in Habachtstellung. Brrrzzzzzzzzz. Die Lanzen, auf die die bis zum Zerreißen gespannte Hautfläche aufgespießt ist, vibrieren lange nach. Mir ist übel. Mein Magen vollgestopft mit rosaroter Watte. Dann öffnet sich mein Körper einen Spalt breit und große Knäuel entweichen, hüpfen ganz leicht heraus, verteilen sich im Zimmer. Sosehr ich auch mit den Augäpfeln rolle, ich kann ihnen nicht folgen. Der Vorhang fällt. Aber die Augen rollen weiter, kippen nach hinten in das tiefe Schwarz des Kopfes. Das Zimmer ist erst rot. Dann selbst das nicht mehr. Die Vorstellung beginnt.

Ewig wirbelt ein Sturm die Bilder hinter meiner fieberheißen Stirn hin und her. Manchmal bekomme ich eine Tablette in die Mundhöhle gedrückt, einzeln verschweißt in ein winziges Stück Folie, unbeschriftet, wie der Traubenzucker, den man beim Arzt bekam, wenn man brav gewesen war. Aber diese Tablette ist kleiner und viel bitterer. Es sind Wunderpillen, die man einzeln am Kiosk bekommt oder in Röhrchen in der Apotheke. Jahre später versuche ich, sie zu kaufen.

Erst nach einigen Tagen, Weihnachten ist schon vorbei und in dem leuchtenden Plastikbaum sind die Batterien leer, als es mich nicht mehr brutal schüttelt, wenn ich mich auf den kühlen Toilettenrand setze, stelle ich mich auf zittrige Beine. Obwohl matt und todesblass, wachsen mir Hufe, die scharren können.

Die Haustür öffnete sich. 11 Stockwerke, 12 Stufen auf jeder Seite des Aufgangs, der Treppenabsatz im Erdgeschoss ist die letzte Hürde, über die ich auf die Straße springe. Schon damals habe ich die Touren gemacht, die mich den Hunger vergessen ließen und die Angst, je nachdem, in immer kleinerem Radius lief ich im Kreis, ein Pferd, das der Hafer sticht, festgeschraubt in der ewig gleichen Bahn um den Mühlstein, stundenlang. Wenn es schlecht lief, auch sehr viele Stunden, den ganzen Tag. In diesem kopflosen Vorwärtsstürmen war nichts Verspieltes, wie ich es an den Damen und Herren mit Hornbrille, Hut und Trenchcoat bewundere, Überbleibsel eines alten Jugoslawiens der blockfreien Bohemiens (ich stelle mir immer vor, sie gingen zum Serbischen Nationaltheater am Platz der Freiheit, einem Gebäude des Brutalorealismus, Abspritzbeton, Scheiben und Quader im Stil des Retro-Futurismus übereinander geschoben, einem Ufo gleich, das auf dem Stadtplatz gelandet war – und ein bisschen so muss sich das sozialistische Theaterhaus gefühlt haben).

Wenn ich die Alten überhole, klopft das heiße klobige Horn meiner Füße über Betontreppen und gesprungene Gehwegplatten, hinauf und hinab, am Ufer der Donau oder unweit der Festung Petrovaradin, ich bin ein wildes Tier mit schweren Beinen auf der Flucht, das Gehen ein Stampfen, das laut im Kopf nachhallt. Pock. Pock. Pock. Bis es endlich nichts anderes mehr gibt. Das scharfe Knallen der Absätze und das dumpfe Echo im Kopf, von einem Ende des Schädels zum anderen geschickt, Ping-pong in einer Tropfsteinhöhle. Eine weite Prärie, in der die Windnester über den unwirtlichen Boden jagen, ausgetrocknet in jeder Hinsicht, kein fruchtbarer Gedanke mehr weit und breit. Unmöglich die Vorstellung, dass hier in naher Zukunft eine Idee Wurzeln schlagen könnte. Die rauen Astnester im Kopf sind ganz anders als die Wattebäusche, die mir so angenehm waren und neckisch aus dem Bauchspalt schlüpften. Erst als ich vollkommen erschöpft und mit zitternden Beinen, im engen Fahrstuhl mit dem schiefen Boden stehe und die Flügeltüren an den schief verschraubten Scharnieren sich kaum schließen lassen, hallt mein um sich schlagendes Herz in einem so unerbittlich gleichmäßigen Rhythmus, wie die eben noch auf den Gehweg einhackenden Stiefel. Der Fahrstuhl hält schaukelnd an. Ich öffne die Tür. Ich zähle die Schläge, bei 300 schlafe ich endlich ein.

13 Tage zuvor. Es ist Weihnachten. Zumindest da, wo ich mal zu Hause war. Meine Mutter, nachdem sie das Nachthemd auf die Heizungsrohre im Badezimmer gelegt hat, ordnet Papierservietten, mit goldenen Sternen auf dunkelrotem Hintergrund. Mein Vater, der den Computer schon gar nicht mehr ausschaltet, sortiert Papiere im Arbeitszimmer. Mein Bruder sagt, er ginge später noch auf die Weihnachtsparty im Gewölbekeller der Universität. Der Weihnachtsbaum, ein runder, grüner, stacheliger Bausch, ist auch in diesem Jahr wieder geschrumpft. Er muss auf einem kleinen Podest stehen, vom längst verstorbenen Opa selbst gezimmert. Die kleine, immer gleiche Glocke steht auf ihrem immer gleichen Platz, an Weihnachten läutet sie zur Bescherung, den Rest des Jahres verstaubt sie zwischen dem Weihnachtsschmuck im modrigen Kellerverschlag.

Krk. Mit Händen wie Schraubstöcken, Verlängerungen des eisernen Klammergriffs des Nussknackers, knackt mein Vater die Schalen der Walnüsse. Krk. Krk. Die Schale spannt sich, zersplittert und gibt ihr Innerstes frei, ihren zarten Kern, verzweigte feine Strukturen, die Adern auf die Nusskerne zeichnen. In Gedanken bin ich in meinem neuen Zuhause, in einem Altbau mit hohen Decken, in einer großen Stadt mit großer Uni und breiten Straßen hängen geblieben. Ein Körper, dem der Panzer keinen Schutz mehr bietet, der einfach aufplatzt. Krk. Krk.

Mein Vater sammelt die Nusskerne in seiner Linken. Ich beobachte ihn durch das flackernde Kerzenlicht, und plötzlich friert die Zeit ein. Aus meinen Füßen wächst dickes Horn, ich scharre mit den Hufen. Wenn ich auf Tour gehe, überhole ich mit jedem Schritt vorwärts den Sekundenzeiger. Krk. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Körper aufplatzt. Elf Tage zuvor. Da, wo ich wohne, ist nun bald Weihnachten. Man merkt es, denn draußen ist es still. Die Krankenhäuser und Psychiatrien überfüllt von Selbsteinweisungen und gescheiterten Suizidalen. An den Strommasten der breiten Alleen hängen strangulierte Weihnachtsmänner, aus dem Himmel gestürzte Sterne und Schlitten, deren Kufen abwärts zeigen, die im Begriff sind, mitsamt Rentier auf die vierspurige Straße zu stürzen, um die Passanten mit Geschenkequadern zu erschlagen. Unter diesem Festtagsschmuck schleppen sich die Verbliebenen durch das Jahr, um pünktlich am 24. Dezember festzustellen, dass die pechschwarze Welle, die sich das ganze Jahr lang drohend über ihnen aufgebaut hat, einfach nicht hinabstürzen will. Auf ewig beschattet sie ihr Gemüt, eine riesige Gewitterwolke, die über ihren Kopf geschraubt ist, wie der Heiligenschein über die Holzköpfe im Krippenspiel, das ewig drohende Damoklesschwert.

Was diesmal aufplatzt, wie eine überreife Frucht, ist der Körper der Freundin. Es ist das erste Mal, dass die Welt stehen bleibt, die Uhren, die Zahnräder eines sozialen Gefüges, das eben noch eine ganze Welt ergab, und ich alleine über die Sekundenzeiger steigen muss. Eigentlich ist es nicht der Körper, der platzt, nur der Schädel. Aufgeknackt, wie die Walnuss, wie die Schale eines gekochten Eis, wenn man mit der stumpfen Seite des Messers hart darauf schlägt. Krk. Und genauso habe ich es mir vorgestellt, der verborgene Kern, die glatte fein strukturierte kalkfarbene Oberfläche, die sich um einen zarten Kern spannt, zwei Kontinentalplatten, die auseinanderdriften, ein Riss, der nicht zu kitten ist, ein klaffender Spalt, Europa hier und Amerika dort, die Alte und die Neue Welt. Ein Gewaltakt. Der Sündenfall. Das Ende der Welt, wie sie war. Nur war es eben nicht das stumpfe Ende eines Buttermessers, sondern das einer Eisenstange. Kein Frühstücksei. Der Schädel der Freundin. Darunter kein Eigelb, geronnen außen und ein bisschen flüssig innen, sondern das Gehirn. Außen rot und innen grau. Krk.

So jedenfalls zeigt es der Film, der hinter meiner Stirn läuft, wenn der Vorhang gefallen ist, mal in doppelter Geschwindigkeit und mal in Slow Motion. Immer wieder. Eigentlich aber ist es mitten in der Nacht. Sie steht in meinem Zimmer. Irgendetwas ließ mir schon im Halbschlaf die Haare zu Berge stehen, trieb mir die Angst aus den Poren. Die schöne Messingklinke der Altbautür, in stundenlanger Arbeit freigeklopft, abgeschmirgelt und poliert, knallt gegen die Zimmerwand. Ich höre den Putz rieseln. Für einen Moment ist es ganz still.

Dann treibt mir das grelle Licht der Deckenlampe messerspitz den Schmerz hinter die Stirn. Von meinem Hochbett aus zwinkere ich hinunter auf ihren Kopf. Sie hält ihn gesenkt, wie ein Stier, dem man in der Arena die Lanzen in den Hals getrieben hat, der kurz vorm Wahnsinn steht, ihre Nüstern blähen sich. Eine Ewigkeit starre ich hinab. Ein roter struppiger Vogel hat sich dort in ein Nest aus Haaren gedrückt. Auch er atmet hektisch, es scheint, als ringe er nach Luft, der kleine Körper bebt. Nein. Seine Brust hebt und senkt sich nur ganz leicht. Kaum merkbar. Ein vorletztes Mal. Ein letztes Mal. Fasziniert schaue ich ihm zu. So rot. So struppig. Als ich die Bettleiter hinunterklettere, mehr rutsche als klettere, Handflächen und Fußsohlen mit einem schmierigen Film überzogen, habe ich den Geruch von Eisen in der Nase, seinen Geschmack auf meiner Zunge. Ganz nah komme ich dem scheuen Tier, es anzufassen, traue ich mich nicht. Dann wähle ich 112.

Krk. Vor Schreck beiße ich mir auf die Zunge. Mein Vater öffnet langsam die Hand und zeigt mir die Nusskerne. Ich blicke an ihm und am Weihnachtsbaum vorbei, an die Wand, wo langsam der Sekundenzeiger der großen Uhr voranspringt. Obwohl ich mit einem Glas Wein aus dem langstieligen Glas, dem guten aus der Vitrine in der Küche, nachspüle, schmecke ich den struppigen Vogel, der es sich in meinem Rachen bequem gemacht hat.

Sonja Vogel, 30, freut sich schon seit Wochen auf „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ im Vormittagsprogramm. Ihre Erzählung ist dem Band „Weihnachten kann kommen“ entnommen, hrsg. von Susanne Gretter, Suhrkamp 2013.