WARUM DIE STÄDTER IMMER PFLANZEN- UND TIERVERSESSENER WERDEN
: Zurück zur Ausbeutung der Natur

Beim langen Tag der Stadtnatur

VON HELMUT HÖGE

Zum Thema „Stadtnatur“ konnte man am Wochenende gegen Eintritt unzählige Veranstaltungen und ausgewählte Orte abklappern. Berlin ist eine grüne Stadt. Als der Senat neulich eine Gruppe New Yorker „Urbanisten“ mit dem Schiff von Tegel abholte, fragte einer anschließend: „Where is the City?“ Vom Schiff aus hatten sie fast nur Grünanlagen gesehen. Nun waren diese flächendeckend ins Stadtmarketing aufgenommen worden. „Stadtnatur“: Warum zieht es immer mehr Pflanzen und Tiere in die Stadt und warum werden die Städter immer pflanzen- und tierversessener?

Gerade werden tausende von Baumscheiben von den Anwohnern aufs Liebevollste „begrünt“. In Kreuzberg gibt es immer mehr Imkerinnen. Man nimmt es bald leichter, wenn um einen herum dieser oder jener Mensch vor die Hunde geht, als wenn zwei, drei Pappeln gefällt werden. Dagegen gründet sich sofort eine Baumschützer-Bürgerinitiative.

Das ist vielleicht der Unterschied zwischen Stadt und Land: Während dort die Menschen vor allem damit beschäftigt sind, der Natur den Garaus zu machen, geht es in der Stadt vornehmlich darum, sich gegenseitig auszubeuten. Von Mensch zu Mensch. Die „Stadtnatur“, die sich vom Land in den urbanen Nischen einschleicht, lässt man in Ruhe, man braucht sie als Erholungsflächen und Lieferant guter Gefühle.

Der Fuchs und die Ründe

Es wärmt das Herz, wenn ein Fuchs selbstbewusst die Manteuffelstraße entlangschlendert und die Platane am Görlitzer Bahnhof ihr Blätterdach zu einer wunderbaren Ründe formt. Berlin gilt als Stadt der Nachtigallen – und die Nachtigallen- sowie auch die Bienenforschung ist hier stark vertreten. Etliche andere Einrichtungen, wie das Fischereiamt, die Revierförstereien und die Schwanenstation, kümmern sich um Bestandsschutz. Auch um die Verbreitung des Spatzes muss man sich keine Sorgen machen.

Zu den „Highlights“ der Stadtnatur gehören der Botanische Garten und die Kreuzberger Kinderbauernhöfe. Sie waren jedoch nicht an diesem „langen Tag“ beteiligt. Vielleicht weil sich jeder Bürger inzwischen in die (städtische) Botanik einmischt und sich auch immer seltsamere Tier-Mensch-Beziehungen entwickeln.

Neben der Soziologie, die an einer „politischen Ökologie“ arbeitet, und der Kulturwissenschaft, die sich für die „Artenbildung durch den Gesang“ (bei Vögeln) begeistert, lässt das natürlich auch die Künstler nicht kalt. Zum „langen Tag der Stadtnatur“ hatte sich eine Gruppe von Kunststudenten ein noch unbebautes Stück „Todesstreifen“ hinter der Bundesdruckerei vorgenommen: Sie steckten künstliche Blumen auf Gräser, flochten Pappelzweige zusammen und versahen Lindenäste mit gelben Armschützern. Es sah witziger aus, als es sich hier anhört.

An der Spree gerieten wir in ein ganzes Ökoseminar, in dem es um „nomadisches“, „partisanisches“ und „immobiles Gärtnern“ ging. Der Künstler Winfried Schiffer begann hier seine Gartentour. Sein Vorbild ist der japanische Mikrobiologe und Bauer Masanobu Fukuoka, der beim Gärtnern Wert darauf legt, dass es nicht in Arbeit ausartet: „Nicht fragen, was man tun sollte, sondern sich fragen, was man unterlassen kann.“ Der „Guerillagärtner“ Schiffer verteilte „Samenbomben“ an alle Teilnehmer seiner Rundtour, die zunächst zum Görlitzer Park führte, wo er hinter dem Säufertreff Kartoffeln anpflanzen will.

Schwimmende Früchte

Am Moritzplatz ist man schon weiter: die Kartoffeln und hundert andere Nutz- und Zierpflanzen gedeihen dort bereits. Sie wachsen alle in transportablen Behältern. Die Künstlergruppe, die diesen „Prinzessinnengarten“ betreibt, der mit 10.000 Euro gefördert wurde, nennt sich „Nomadisch Grün“. Wir erfuhren dort, dass es in Birma „schwimmende Gärten“ gibt, man verkauft nicht ihre Früchte, sondern verschifft die Gärten als Ganzes. Und in Berlin experimentiert das Kaufhaus „Lafayette“ in der Friedrichstraße mit einem „vertikalen Garten“ an der Hausfassade.

Der Künstler-GmbH „Nomadisch Grün“ geht es um „Landwirtschaft in der Stadt“ – es ist damit eine Umsetzung der in US-Ghettos entstandenen „Stadtgärten“, wie sie von Elisabeth Meyer-Renschhausen an der Humboldt-Universität erforscht wurden. In Detroit, das inzwischen 60 Prozent seiner Bewohner verloren hat, will man im Stadtzentrum jetzt sogar großflächig Landwirtschaft betreiben.

Das wäre jedoch aus Armutsgründen das Ende des „langen Tags der Stadtnatur“, denn damit sind wir wieder bei der Primärproduktion, der Ausbeutung der Natur, angekommen.

Ist „der lange Tag der Stadtnatur“ am Ende nur der Übergang zu einer neuen „Subsistenzwirtschaft“ – aus dräuender Not – ein Atemholen von Natur und (Agri-)Kultur?