Müssen Fußballer moralisch sein?

FUSSBALL UND MORAL Sollten wir für den Fußball die gleichen moralischen Maßstäbe anlegen wie für andere Bereiche der Gesellschaft? Oder ist es ratsamer, in der Bekämpfung von Lug und Betrug auf die Technik zu vertrauen?

VON JOACHIM GOERTZ

Natürlich hat ein Schiedsrichter zu richten, zu entscheiden und ein Fußballspieler zu spielen. Und natürlich kann es auf einem Fußballplatz nicht zugehen wie in einem ordentlichen Gericht, bei dem Zeugen und Angeklagte befragt werden und sich vor einem Urteil äußern können. Aber auch ein Fußballfeld ist ein irdisch Ding und damit menschlicher Fehlbarkeit unterworfen. Zwar bitten Menschen im Vaterunser: „führe uns nicht in Versuchung“, aber zugleich heißt es in den Zehn Geboten: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“.

Ist also ein Fußballer schon versucht, die Hand (Gottes) zu seiner Mannschaft Vorteil einzusetzen, kann ihn aber auch eine Schiedsrichterfrage danach nicht davon entlasten, sich zu seiner Schuld zu bekennen – auch öffentlich. Denn wo kommen wir hin, wenn uns nach den Bankern, Politikern und Priestern nun auch noch unsere Sportidole offensichtlich die Hucke volllügen? Fußballer und Schiedsrichter vertreten nicht nur sich selbst, sondern mindestens auch ihre Nation.

Was soll die Mär von der Völkerverständigung, wenn wir mit unserem Verhalten Klischees zu erwecken helfen, die einen ganz und gar unfröhlichen Nationalismus erstehen lassen? Die Strafe schleicht sich dann ebenso unmerklich ein wie die Lüge. Die Spanier, Franzosen und die Brasilianer haben es bei dieser WM schon in unterschiedlicher Weise erfahren müssen. Wer meint, darüber hinwegsehen zu können, der ist sich der Ambivalenz unserer menschlichen Emotionen offenbar nicht bewusst. Und symbolisch spiegelt sich in der Fußballarena unser menschliches Schicksal wider: ob wir die Welt meistern, uns an ihr vergehen oder an ihr versagen.

Joachim Goertz

■  54, ist seit 20 Jahren evangelischer Pfarrer an der St.-Bartholomäus-Kirche in Berlin-Friedrichshain. War in seiner Kindheit und Jugend als Fußballer und Schiedsrichter bei der BSG Motor Weimar und der Auswahl der Kirchlichen Hochschule Naumburg/Saale aktiv.

VON THILO KNOTT

Luis Fabiano ist ein Lügner! Sagen die Moralapostel. Fabiano muss nachträglich für seine Lüge gesperrt werden. Sagen die Moralapostel. Doch die moralische Anklage ist völlig fehl auf dem Platz.

„Die Leute neigen zum Moralisieren, weil das Moralschema gut/schlecht ihnen eine Chance gibt, sich selbst auf der guten Seite zu platzieren“, schrieb Niklas Luhmann. Die Moralisten aber haben das Spiel nicht verstanden. Im Sport geht es nicht um moralisch guten oder moralisch schlechten Sport. Das Funktionsprinzip dieser Wertsphäre ist: Sieg oder Niederlage. Und in diesem Sinne hat sich Luis Fabiano als echter Sportsmann erwiesen. Es ist naiv anzunehmen, ein Sportler müsste sich gegen diese Funktionsweise von Sieg und Niederlage stellen. Und der Sieg ist nun mal höherwertig als der Fairplay-Preis. Anders ausgedrückt: Kein Mensch würde sich mit dem von der „nationalen Vereinigung der Finanzämter“ ausgeschriebenen Preis „Steuerzahler des Jahres“ schmücken.

Es gibt nur zwei unmoralische Mittel gegen solch ein Handspiel. Erstens: die Professionalisierung der Schiedsrichter. Wenn der Anreiz so hoch wäre, könnten zum Beispiel ehemalige Fußballprofis auf die andere Seite wechseln und Regelverstöße aus eigener Erfahrung viel besser lesen als die momentanen Halbprofis. Zweitens: der Videobeweis. Dann würde diese Szene so aussehen: Tor Luis Fabiano, Befragung durch den Schiedsrichter, Anschauen des Videos – anschließend Annullierung des Tores und Gelbe Karte für absichtliches Handspiel. Fertig.

Es braucht also keine Moral, es braucht nur einen zweiten Schiedsrichterblick auf das Spiel. Und das müsste doch drin sein im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.

Thilo Knott

■  38, ist Leiter des taz-Schwerpunktressorts und ehemaliger Amateur beim TSV 1864 Blaufelden. Sein Imperativ: „Lieber Trainer, Kopfballspiel lehne ich kategorisch ab!“