Im Kugelhagel

APOKALYPSE Brennende Rauhaardackel und ein Inferno aus Rauch – das ist Neukölln am letzten Abend des Jahres. Besonders Touristen, die das Silvester-in-Berlin-Paket gebucht haben, haben es hier nun schwer

Wäre man ein empathischer Mensch und kein Berliner, könnten sie einem durchaus leidtun

VON ULI HANNEMANN

Ein Video auf YouTube zeigt apokalyptische Szenen: Schwarzer Qualm zieht durch vermüllte Straßen und wabert über ausgebrannte Fahrzeuge und tote Tiere. Hier und da ein lebloser Körper. Lautes Gebrüll, Blitze, Mündungsfeuer und Granaten. Vermummte Gestalten, die unter unablässigem Geballer Häuserblock um Häuserblock voranrücken. Auf Zivilisten wird keine Rücksicht genommen, eher noch sind sie Zielscheiben.

Silvester in Neukölln ist das nicht. Doch wenn man statt der Suchbegriffe „Warlords“, „Mogadischu“ und „Straßenkampf“ die Begriffe „Krank!“, „Neukölln“ und „Krieg“ eingibt, stößt man auf nahezu identische Aufnahmen vom vergangenen Jahreswechsel. In dem an zweiter Position gelisteten Clip ist ein Mann in einem Inferno aus Feuer und Rauch zu sehen, der vor Lärm und Angst offenbar wahnsinnig geworden ist: „Hör auf“, schreit er in einem fort. „Ich ruf die Polizei“, „Was ist denn eigentlich los hier?“, „Was ist passiert?“ „Ich ruf die Polizei an! Ahhhh! Ei, ei, ei!“, und, der Höhepunkt der Verwirrtheit: „Ich will eigentlich schlafen!“

Ein wenig erfüllt es einen ja doch mit Genugtuung, die kürzlich auf einem dieser „Besinnungsweihnachtsmärkte“ (Kennzeichen: keine Achterbahn und gezuckerte Fensterreiniger mit pseudonordischen Fantasienamen) wie lebende Barrikaden im Weg herumeiernden Berlinbesucher auf einmal hurtig springen zu sehen.

Zeternd im Zickzack

Was für ein Hallo-Wach-Effekt! Zeternd und wild mit den Armen fuchtelnd, versuchen sie, im Zickzack hüpfend den auf sie abgefeuerten Raketen und Kugeln sowie den außer Kontrolle herumflitzenden, brennenden Rauhaardackeln auszuweichen. Na also, sie können es doch – so viel in Bewegungsenergie umgesetztes Adrenalin hätte man den drögen Schleichern gar nicht zugetraut.

Wäre man ein empathischer Mensch und kein Berliner, könnten sie einem durchaus leidtun. Denn das ist schon eine fiese Falle. Keiner hat sie gewarnt. Und so kommt das Paar aus der Provinz voller Vorfreude hierher. Gebucht ist das Silvester-in-Berlin-Paket im Hotel „Days Inn South“ am Hermannplatz. Von dort aus wollen sie am Silvesterabend ein wenig frische Luft schnappen und anschließend vielleicht noch auf ein Glas Holundersekt in eine nette Bar in der Umgebung.

„Frische Luft“. „Nette Bar“. „Umgebung“. An diesen fehlgeleiteten Erwartungen merkt man bereits: Das Hotelpersonal verletzt seine Fürsorgepflicht. Anstatt den Lehrfilm vom vorigen Jahreswechsel vorzuführen, keckert es ihnen scheinheilig hinterher: „Ich wünsche den Herrschaften viel Spaß“. So behandelt Berlin seine Besucher. Wie Laufkundschaft, wie Eindringlinge, wie Vieh.

Schon auf den ersten Metern werden sie unter Dauerfeuer genommen wie vor ihnen allenfalls die Landungstruppen am D-Day. Rasch flüchten sie sich in eine Bar. Die Bar ist nicht nett. Das Bier schmeckt nach fauligem Brackwasser, die Cocktails nach billigem Sprit. Alle sind sturzbetrunken und entblößen Körperteile, von denen man lieber nicht gewusst hätte, dass es sie überhaupt gibt.

Kurz vor Mitternacht werden sämtliche Gäste auf die Straße gescheucht. Dort schießt jeder auf jeden und unser Paar lernt schnell, den Bärentanz zu tanzen. Die Menge johlt. Wo sind die ganzen besinnlichen Menschen hin, von denen doch erst kürzlich die Bekannten schwärmten, die das Advent-in-Berlin-Paket in Prenzlauer Berg gebucht hatten? Man soll dort so angenehm auf dem Weihnachtsmarkt in der Kulturbrauerei herumgestanden sein. Aber wo ist das: Prenzlauer Berg? Und wo sind sie um Gottes Willen hier gelandet? Hier sind doch nur Mörder und Verrückte! Erste Verluste: Die Frau verschwindet im Getümmel. Der Mann gerät in Panik und beginnt zu schreien: „Hör auf!“.

Sie sind eben nichts gewöhnt – und hätte der Hoteltyp ihnen eindringlich geraten, auf dem Zimmer zu bleiben, die Fenster zu verschließen und sich an die Minibar zu halten, wäre weiter nichts passiert. Sie verstehen ohnehin nicht, was da draußen vor sich geht.

Dabei ist alles doch ganz einfach: So feiern nun mal die Armen, die Künstler und die, die beides gern wären. Das ganze Jahr über ächzen sie unter der Knute von Jobcenter, Künstlersozialkasse oder Partystress. Nun entlädt sich der aufgestaute Druck in einer Orgie der Gewalt und des totalen Irrsinns. Man muss sie verstehen, denn für sie gibt es nicht wirklich eine Zukunft – und wenn doch, dann heißt sie 666 und nicht 2014. Trotzdem bricht irgendwann der neue Tag, das neue Jahr, das neue Elend an. Im „Days Inn South“ wird die traditionelle Neujahrsinventur durchgeführt: Welche Zimmernummern hatten denn das Silvester-in-Berlin-Paket?

Fremde Habseligkeiten werden in fremde Koffer geworfen und in den Keller gebracht. Wertsachen werden aufgeteilt, angebrochene Kosmetikartikel entsorgt, Spuren verwischt und Pässe verbrannt. Die Besitzer kommen niemals wieder.