Kein neues Petroleum ins Feuer

WO SIE SIND Bei der WM präsentieren sie sich als Musterprofis: Jerome für Deutschland, Kevin für Ghana

PRETORIA taz | Sie bemühen sich beide um Deeskalation vor dem Entscheidungsspiel. Jerome Boateng, deutscher Nationalspieler, teilt mit, dass sein Halbbruder Kevin-Prince Boateng, ghanaischer Nationalspieler, einen gewissen Michael Ballack nicht absichtlich gefoult habe. Kevin-Prince habe gute Seiten, und er habe dem deutschen Kapitän nicht die WM nehmen wollen. Wenn diese Sache, die sich zu einem Ereignis von nationalem Belang hochgeschaukelt hat, vorbei sei, dann könnte sich Jerome vorstellen, auch mal wieder mit Kevin-Prince zu reden. Aber noch herrscht Funkstille. Der Tritt im englischen Pokalfinale hat einen Keil zwischen die Boatengs getrieben, obwohl Kevin-Prince, der in Berlin-Wedding aufgewachsen ist, immer ein Vorbild war für Jerome aus dem bürgerlichen Wilmersdorf.

Auch im Quartier der Ghanaer hält man sich zurück. Kevin-Prince verspricht, eine gute Partie auf dem Platz abzuliefern. Sein Trainer Milovan Rajevic will den Profi des FC Portsmouth psychologisch auf mögliche „Provokationen“ der Deutschen vorbereiten und rät ihm zu Zurückhaltung. Es ist ohnehin schon zu viel geschehen, niemand will neues Petroleum ins Feuer gießen.

Kevin-Prince ist nach seinem Tritt aufs Übelste beschimpft worden, in Foren auf StudiVZ und Facebook kochte der Volkszorn hoch. Rassistische Tiraden prasselten auf den 23-Jährigen herab, Bild-Kolumnist Franz-Josef Wagner bezeichnete ihn als „Arschloch“, weiter hinten im Blatt, im Sportteil, wurde nur noch vom „Brutalo-Treter“ geschrieben. Dass Ballack in besagtem Spiel Boateng vorher leicht geohrfeigt hatte, das allerdings wurde meist unterschlagen.

Tatsächlich verät der Fall Boateng weniger über den Fußball, sondern viel mehr über den Charakter des Internets, wo sich in Minutenschnelle User zusammenfinden, um steile Thesen zu verbreiten und Hetzjagden zu veranstalten. Wenn die Lawine des Unmuts erst einmal rollt, wird aus ihr ganz fix ein pyroklastischer Sturm der Entrüstung, der jedes rationale Argument plattwalzt und nur noch verbrannte Erde hinterlässt.

Die hervorragend vernetzten Brandstifter haben Kevin-Prince Boateng zu einer Ausgeburt des Bösen stilisiert, der dem deutschen Nationalteam bewusst Schaden habe zufügen wollen, aber das ist Unsinn. Jeder, der Fußball gespielt hat, weiß, dass im Eifer des Spiels nur der Augenblick zählt.

Alle Beteiligten tun jetzt gut daran, den Fall Boateng nüchtern und distanziert zu betrachten. Auch Arne Friedrich, Mitglied im Mannschaftsrat der DFB-Auswahl, rät zur Besonnenheit: „Kevin stand viel in den Medien, aber da wurde viel hochgeschaukelt, er hat auch gute Seiten“, sagt der Innenverteidiger, der ihn aus der gemeinsamen Zeit bei Hertha BSC gut kennt. Stürmer Cacau sagt: „Das morgige Spiel ist zu wichtig, um auf diese Kleinigkeiten einzugehen.“ Es ist nicht die schlechteste Einstellung, auch wenn 30 Millionen deutsche Bundestrainer während des Spiels der DFB-Auswahl gegen Ghana ganz genau hinschauen werden, wie Kevin-Prince Boateng in die Zweikämpfe geht.

MARKUS VÖLKER