In Oktopussis Fleischgarten

Thomas Kilpper hat in einer ehemaligen Metzgerei in Lichtenberg den Projektraum „after the butcher“ eingerichtet – als Ort für Künstler zur Auseinandersetzung. 120 tun das jetzt schon mal in der Ausstellung „beton wurst und andere teamgeister“

Am Ort des früheren Räucherofens erschreckt eine Frau im Strampelanzug

VON MARCUS WOELLER

Lichtenberg ist fleischereifrei. Kein einziges Fachgeschäft gibt es in dem Bezirk, denn Fleisch kauft man in Berlin meist im Supermarkt. Deshalb sind Metzgereien selten geworden, übrig blieb nur eine Vielzahl von leer stehenden Läden, die mit Wandkacheln, Blutrinnen im Boden und altmodischer Außenwerbung an den Niedergang des Handwerks erinnern.

Einer dieser Läden wird in Lichtenberg neuerdings kulturell genutzt. „After the butcher“ nennt sich das Projekt des Künstlers Thomas Kilpper ganz ehrlich. In dem zwischen Hochhaussiedlungen und S-Bahn-Trassen verborgenen Altbauquartier der Victoriastadt hat er eine ehemalige Metzgerei samt Hintergebäuden erworben, saniert und für Kunstprojekte geöffnet.

In seiner eigenen künstlerischen Arbeit sucht Kilpper nach Räumen, denen eine Geschichte eingeschrieben ist. 1998 hat er sich mit der Basketballhalle des Camp King bei Frankfurt am Main beschäftigt. Bis 1945 verhörten die Nazis hier abgeschossene Kampfflieger; nach 1945 übernahm die CIA das Gebäude, blieb der Tradition des Hauses treu und verhörte nun die von den Alliierten gefangen genommenen Militärs des NS-Regimes.

Dass sich die Geschichte in solche Räume gleichsam einschreibt, will Kilpper aufzeigen. Mit schwerem Gerät bearbeitete er das Parkett der Halle und verwandelte den Boden so in einen riesigen Druckstock, von dem er Holzschnitte abnahm. Ähnlich verfuhr er auch mit den Holzdielen eines Bürohochhauses in London. Als er Bilder in die Türen und Zellenwände des Frankfurter Männergefängnisses Preungesheim schneiden wollte, wurde ihm das vom Hessischen Justizministerium verboten. Dann wieder hat er mit palästinensischen Jugendlichen in israelisch besetzten Gebieten eine meterhohe Skulptur gebaut und sie 200 Kilometer durch die Militärzone geschleppt – als Kritik an den Ausgangssperren, Reiseverboten und Personenkontrollen, die dort zum Leben gehören. Für seine Arbeiten erhielt Kilpper 2004 den HAP-Grieshaber-Preis.

Die ehemalige Fleischerei in Lichtenberg hat keinen brisanten politischen Hintergrund, wenngleich der Weitlingkiez, in dem erst vor kurzem ein Politiker von Neonazis angegriffen und verletzt wurde, nur auf der anderen Seite der S-Bahn liegt. Das Haus in der Spittastraße 25 spielt eher eine Rolle in der architektonischen Stadtgeschichte: Es ist eines der ersten in Berlin gebauten Betonhäuser, errichtet wurde es zwischen 1870 und 1875. Kilpper und seine Partnerin Franziska Böhmer wollen es mit wechselnden Ausstellungen und ab dem nächsten Jahr mit einem artist-in-residence-Programm zu einem Ort für den kulturellen Austausch machen, den man in Lichtenberg nicht erwarten würde. Bisher finanzieren sie ihr Projekt aus eigener Tasche, bemühen sich jedoch um Fördermittel aus dem Hauptstadtkulturfonds. Dennoch finden sie, dass sich Künstler – wie alle anderen Berufstätigen auch – durch ihre Arbeit finanzieren können sollten.

Die Eröffnungsausstellung „beton wurst und andere teamgeister“ illustriert Kilppers persönliches Netzwerk. Knotenpunkte sind dabei autobiografische Stationen, an denen er andere Künstler getroffen oder mit ihnen zusammengearbeitet hat. Kilpper war ja auch viel unterwegs: Geburt in Stuttgart, Studium in Nürnberg, Düsseldorf und Frankfurt, Stipendium in London, Umzug nach Berlin. Formale Unterschiede und inhaltliche Überschneidungen spiegeln sich in der Fülle der präsentierten Arbeiten. Zeichnungen, Fotografien, Drucke, Poster, Skulpturen und Installationen von 120 Künstlern und Künstlerinnen verteilen sich auf die vier Räume des Ladens und des im Hinterhaus liegenden Ateliers. Da wird der Ausstellungsbesuch zur Suche nach alten Bekannten, zur Entdeckung neuer Namen, zum Vergleich verschiedener Arbeitsmethoden, zum Versuch der Verknüpfung künstlerischer Positionen.

Josephine Pryde etwa dokumentiert in ihren Fotos auch immer den Prozess ihres Entstehens. Für „Squid“ hat sie einen marktfrischen Tintenfisch mit in die Umkleidekabine einer Londoner Boutique genommen. Undine Goldberg portraitiert ihren Kollegen Thomas Schroeren in flotter Buntstiftzeichnung, ein paar Wände weiter ist er selbst mit einer Wandinstallation vertreten. Susanne Winterling verschmilzt Videomaterial zu Fotocollagen, während Martin Feldbauer die fürsorglich vernähte Blessur einer Autostoßstange fotografiert. Die israelische Künstlerin Tal Sterngast zeigt sich im Selbstportrait als Anne Frank mit Schwester. Frank Bubenzer erklärt, was „Photoshop für Arme“ bedeutet, und Susa Templin bedient sich wenig später desselben Programms, um fotografische Landschaften zu erzeugen.

Andere Arbeiten rücken von formalen Spielereien ab. Simone Zaugg beschäftigt sich in „Sleeploop Walk“ mit dem Zustand nach dem Stillstehen und vor dem Weitergehen. An der Stelle des ehemaligen Räucherofens der Fleischerei erschreckt e. Twin Gabriel mit „21st century überfrau no. 2“, dem Doppelportrait einer Frau im orangefarbenen Strampelanzug und einer Gasflamme.

Kilpper versteht „after the butcher“ als heterogenen Projektraum von Künstlern für Künstler, die alle eine Auseinandersetzung mit sozialen, politischen und gesellschaftlichen Fragen verbindet. Die Schnittmenge dieser inhaltlichen Gemeinsamkeiten will er darstellen. Demnächst wird es eine Zusammenarbeit mit der Freien Klasse der Universität der Künste geben. Die Freie Klasse ist eine von den Studierenden selbst organisierte Institution innerhalb der Institution HdK/UdK. Seit ihren Anfängen 1990 beansprucht sie künstlerische und politische Autonomie und sucht nach alternativen und fließenden Konzepten der akademischen Lehre. Die interdisziplinären Diskussionen, die in der Freien Klasse gepflegt werden, sollen ab September in eine Ausstellung bei „after the butcher“ münden. Die Vernetzung schreitet also fort.

After the butcher – Ausstellungsraum für zeitgenössische Kunst, Spittastr. 25, Lichtenberg, noch bis 9. Juli, Freitag 15–19 Uhr, Samstag 13–17 Uhr; 8. Juli, 17–21 Uhr: Finissage mit Videos von Endre Aalrust, Bernadette Corporation, Achim Lengerer, Laure Prouvost u. a.; im Anschluss: Fußball-WM live, Spiel um Platz 3