90 MINUTEN … MIT MIR

Hoffen auf den Resonanzkörper: WM-Spiele alleine gucken ist langweiliger als ein Sonntagmorgen

So müssen sich doch die Giganten fühlen. Beckenbauer zum Beispiel. Wie der immer auf der Bühne hockt, und dann schwenkt das ZDF oder die ARD auf ihn und sagt irgendwas wie „jaja, der Franz, eben noch im Helikopter, jetzt schon in Leipzigdortmundnürnberg“. Da sitzt er mitten unter Menschen und doch alleine. Alleine unter vielen. Und wenn ihm später so ein Reporter das Mikrofon unter die Nase hält, dann ist er wieder alleine und muss nach Worten suchen, um die eben erlebte Einsamkeit zu beschreiben: „Ja, gut, Fußball ist kein Schachspiel.“ Doch manchmal – und wer dabei zusieht, kann dann verdammt einsam sein.

Wenn ich Fußball geguckt habe in der vergangenen Woche, dann immer gemeinsam mit anderen Menschen. Männlichkeitsrituale funktionieren in der Gruppe eben besser als zu Hause. Grölen heißt ja erst so ab zwei Männern, vorher gilt es als unsittlich. Dasselbe gilt für Freudentänze.

Und dann kam das Wochenende! Ich war allein. Wie Franz. Allein auf meinem Bett, vor mir die Glotze, neben mir Bier, 1, 2 und 3, daneben die Fernbedienung. Ein Traum. Das einzige Problem an diesen Tagen: die Sitzposition. Ich hätte breitbeinig glotzen können, liegend oder an die Wand gekauert mit einer Decke im Mundwinkel. Ich hätte mich am Hinterkopf kratzen können, an der Wange. Alles wäre möglich gewesen und ohne dass die ARD dabei auf mich geschwenkt hätte. Ja, ich hätte (und ich habe!) sogar von meiner Klobrille aus verfolgen können, wie die Saudis gegen die Ukraine am Ende doch noch untergingen und wie wenig Einfluss das Spiel Togo gegen Schweiz auf meine Darmflora hatte. Dumm war nur eines: Ich bekam nichts richtig mit von den Spielen. Mir fehlte der Resonanzkörper, die Masse.

Wenn ich gejubelt habe, habe ich aus meinem Fenster hinausgehört, ob jemand den Jubel erwidert. Wenn ich den Schiri fachmännisch heruntergeputzt habe („Passives Abseits, Alter, passives Abseits! Maaaaannnn, bist du blind!“), erhoffte ich mir Zustimmung aus den anderen Wohnungen. Wenn auf Franz geschwenkt wurde, dachte ich, jetzt würde gleich tosender Applaus meinen Hinterhof erfüllen. Doch – nichts passierte. Es blieb so ruhig wie sonst sonntags Morgen; und selbst da ist es lauter, wenn einer das Glaswegwerfverbot missachtet. Meine Nachbarn versagten am vergangenen Wochenende kollektiv, was vielleicht daran liegt, dass ich in einer der wenigen Straßen wohne, wo keine einzige Fahne aus den Fenstern hängt und wo im Eine-Welt-Laden für eine Anti-WM-Aktion geworben wird. Ein Trauerspiel. Alleine gucken – nie wieder.

DOMINIK SCHOTTNER