Die Figur hat oft einen schweren Stand

MENSCHENBILDER „1919 Figur 2010“ heißt die Jubiläumsausstellung zum 50-jährigen Bestehen des Georg-Kolbe-Museums. Sie vergleicht die Macharten von Skulpturen im Wandel verschiedener, auch dunkler Kunstepochen

Heroismus fehlt der Bildhauerei von heute. Von Irritation kann sie dagegen nicht genug kriegen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Nimmt man die Skulptur als Messlatte, dann scheint sich der Mensch in den letzten einhundert Jahren zu einer herben Enttäuschung entwickelt zu haben. Nichts mehr von der Idealisierung seines Bildes, wie sie die Bildhauergeneration um Georg Kolbe beschäftigt hat. Nichts mehr von dem Glauben, seine Natur und damit sein wahres Wesen losgelöst von allen sozialen Kontexten und gesellschaftlichen Bindungen am besten darstellen zu können. Stattdessen Szenen von raufenden Kindern, Kinder ohne Gesicht, Sockel ohne Figur und jede Menge ironische Brechung.

Ein solchen Gegensatz macht die Ausstellung „1910 Figur 2010“ auf, die im Georg-Kolbe-Museum Bildhauer der Kolbe-Zeit Künstlern der Gegenwart gegenüberstellt. Es ist eine Jubiläumsausstellung, mit der das Museum, das am 18. Juni 1950 in Kolbes ehemaligem Atelierhaus eröffnet wurde, sein 60-jähriges Bestehen feiert.

Was dachten die jungen Frauen, die für Georg Kolbe Modell standen? Zum Beispiel eine junge Frau aus Malaysia, die Kolbe 1916 zu seiner „Malaiin“ aus Bronze verhalf? Die Sinne der schlanken Bronzefigur scheinen nach innen gerichtet, nichts in ihrer Nacktheit wirkt exponiert und für eine Bezeichnung der sehr eigenen Mischung zwischen Spannung und Lockerheit in ihren Gliedern fehlen uns heute glatt die Worte. „Natürlichkeit“ oder „Schönheit“ sagten Kolbes Zeitgenossen dazu, das kommt uns heute nicht mehr so leicht über die Lippen. Der Kunsthistoriker Emil Waldmann, der die „Malaiin“ für die Bremer Kunsthalle erwarb, kommentierte: „Denn diese Wilden sind wenigstens in diesem Punkte doch bessere Menschen, sie wissen nichts vom europäischen Schönheitskanon und stehen da, wie sie die Natur erschaffen hat, auf ihren zwei Beinen, nicht auf Standbein minus Spielbein.“

Für die Entwicklung der Bildhauerkunst war es ein Fortschritt, sich nicht am Kanon zu messen und nicht mehr vom feudalen oder staatlichen Repräsentationsbedürfnis vereinnahmen zu lassen. Was das Modell aber dabei empfand, solchermaßen zur Matrix für ein Ideal zu werden, war nicht Teil dessen, was Kolbe in der Figur verhandelte. Mit solchen Fragen beschäftigen sich aber zwei Bildhauerinnen gleich im ersten Raum der Jubiläumsschau.

Die Exposition vor den Blicken, das Entzünden der Selbstwahrnehmung an der Fremdwahrnehmung, ist zum Beispiel Thema in der Serie „Weitere Galante Szenen“ von Pia Stadtbäumer. Die Bildhauerin bat Bekannte, sich zu verkleiden und Posen eines Rokokogemäldes nachzuahmen. Ihre hautfarben bemalte Frauenfigur liegt auf dem Rücken auf einer Etagere, die den Popo unter dem Rüschenrock direkt auf Augenhöhe hebt. Bis in die langen Wimpern hinein ist jedes Detail dieses Körpers immer auch Ergebnis einer Inszenierung. Natur? Der Begriff findet bei Stadtbäumer keinen Platz.

Von der Erfahrung, zur Verfügungsmasse zu werden, erzählen die Figuren von Iris Kettner, die aus grob genähten Textilien und Klebeband bestehen. Nicht umsonst nennt Kettner sie „Dummies“, Stellvertreter für die Abfuhr von Affekten. „M#6“ scheint eine Frau mit einem Kind auf dem Arm zu zeigen, deren Billigklamotten ihre Herkunft vom Rand der Gesellschaft kennzeichnen. Die textilen Materialien wirken nicht bloß abbildhaft, sondern auch schwach, vergänglich, abgenutzt: eben mitleiderregend.

In den hundert Jahren, die zwischen den Skulpturen liegen, hatte die Figur oft einen schweren Stand. Besonders im Nachkriegseuropa war sie kontaminiert von einer Geschichte der propagandistischen Vereinnahmung in der Zeit des Nationalsozialismus. Das Kolbe-Museum hat diese Geschichte ebenso wie den unreflektierten Exotismus der Moderne in zurückliegenden Ausstellungen aufgearbeitet.

Doch unser Blick auf die heroischen Körper vom Anfang des 20. Jahrhunderts ist noch immer von dem Wissen um den Fortgang der Geschichte geprägt. Es gruselt einem vor dem überlebensgroßen Ringer von Hugo Lederer, 1907 geschaffen, der auf einem Sockel an der Mündung der Preußenallee in die Heerstraße steht. Eine Fotografie weist in der Ausstellung auf ihn hin: Für Lederer mochte der Sport eine Legitimation gewesen sein, sich mit der Modulation des Körpers jenseits von Denkmalsaufgaben zu beschäftigen. Doch für uns wirkt der Schritt des Ringers, zumal bei diesen Straßennamen, vor allem als Vorbote militärischer Disziplin.

Disziplin und Heroismus sind heute keine Kategorien mehr in der westlichen Kunst, von Irritation dagegen, die alles ins Uneigentliche verschiebt und statt bedeuten zu wollen lieber nicht bedeuten will, kann auch die Skulptur der Gegenwart die Nase nicht voll kriegen. Immer einen kleinen Schritt gegen die Erwartung gewendet sind zum Beispiel der „Zwillinge“ von Simon Schubert, kindergroß, händchenhaltend, in karierten Kleidchen, wohl gekämmt. Doch sie haben kein Gesicht, kein Vorne und Hinten, sondern sehen von jeder Seite aus wie eine Rückenfigur. Sie verleugnen sozusagen das Dreidimensionale ihrer Existenz und lassen nicht mehr sehen als ein Gemälde. Natürlich ist es der Bildhauer, der so den Forderungen des Genres das Selbstverständliche nimmt, aber er packt diese Geste eben nicht zufällig in eine infantile Figur: Frechheit im Gewand des Braven.

Solche über Bande gespielten Finten waren zwar der Kunst der frühen Moderne, Dada zum Beispiel, nicht unbekannt, für das langsame Medium der Bildhauerkunst aber spielten sie keine Rolle. An Tempo und Beweglichkeit gewonnen zu haben, vor allem in der Anregung des Betrachters, ist ein Punkt, den die Figur der Gegenwart deutlich macht.

■ Bis 5. September, Kolbe-Museum, Sensburger Allee 25, Di.–So. 10–18 Uhr