Der Spurenleser

AUS MÜNCHEN GEORG LÖWISCH

Peter Horn könnte sich einen Zylinder aufsetzen und auf eine Varietébühne steigen. Könnte ein Haarbüschel nehmen, das einem zufällig ausgewählten Zuschauer abgeschnitten wurde, und zum Publikum sagen: „Ich habe mir diese Haare mal angesehen. Ihr Besitzer ist vor drei Monaten von Ungarn nach Bayern gezogen, und er knabbert schrecklich gerne Nüsse.“ Der Haarbesitzer würde verdutzt sagen: „Stimmt.“ Und das Publikum würde murmeln: „Großartiger Trick!“

Peter Horn kann große Auftritte nicht leiden. Er braucht auch länger für so ein Kunststück, als es eine Varieténummer erlaubt. Aber dafür trickst er nicht. Im Sommer 2004 hat er sich zwei Haarbüschel angesehen. Ihrem Besitzer, so hat er es hinterher aufgeschrieben, muss das Leben ganz schlimm durcheinander geraten sein. Er muss gehungert haben und seelischem Stress ausgesetzt gewesen sein. Der Mann kam aus Ulm und hieß Khaled al-Masri.

Inzwischen haben die USA mehr oder weniger eingeräumt, dass sie al-Masri irrtümlich für einen Terroristen gehalten und entführt haben, heute soll das Opfer in Berlin vor dem Untersuchungsausschuss aussagen. Aber lange wusste weder die Staatsanwaltschaft noch die Öffentlichkeit, was an al-Masris Geschichte dran ist. Der Kripobeamte, der den Fall bearbeitete, hatte gehört, es gebe jemanden, der etwas Unglaubliches kann: die Vergangenheit eines Menschen in seinen Haaren lesen. Kein Zauberkünstler, sondern Peter Horn, Prof. Dr. rer. nat., Geochemiker.

Vom Mond zum Mord

Peter Horn lebt in München in einem der Altbauten, die noch nicht luxussaniert sind. Unten gibt es einen Friseur und einen Buchladen, und im Stockwerk über ihm wohnt der Kinderbuchzeichner Ali Mitgutsch. Horn, 65, blauer Nickipullover, schwäbische Aussprache, geht in die Küche voraus. Es riecht ein bisschen nach Zigarettenrauch, auf dem Tisch stehen frische Margeriten, und Horn stellt Teebecher dazu. „Ich bin erst spät ins Bett wegen diesem Fall. Ein totes Baby, das sie in Castrop-Rauxel gefunden haben.“ Er schaut traurig. Er hat Haare und Teile vom Kiefer untersucht. „Vielleicht kann ich Hinweise finden, wie die Schwangere gelebt hat. Mord ist Mord.“

Horn ist ein Spurensucher, nur dass das Prinzip der Spurensuche umgedreht ist. Normalerweise wird etwas gesucht, was ein Mensch hinterlässt. Ein Fingerabdruck, ein Kleiderfussel. Horn sucht nach Spuren, die die Natur im Menschen hinterlässt.

Im ganzen Kosmos sind die meisten chemischen Elemente aus verschiedenen Atomsorten aufgebaut, die sich durch ihre Masse unterscheiden. Wasserstoff, Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff und Schwefel, die Elemente des Lebens, treten in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf, ein Wasserstoffatom ist schwerer, ein anderes leichter. Man nennt die Erscheinungsformen Isotope, ihre Häufigkeit bestimmt das Isotopenverhältnis.

Man kann es sich als Muster vorstellen, das vom Wasser und vom Gestein in die Nahrungskette wandert. Die Menschen bauen es in ihre Knochen ein, in die Zähne, die Nägel und die Haare. Dazu kommen Schwermetalle wie Blei, die in der Luft rumfliegen, auf dem Salat haften oder gleich außen an den Haaren kleben. „Kommt jemand aus den USA“, sagt Horn, „würde ich das vor allem am Blei merken, das vorwiegend aus den dortigen Lagerstätten und der Industrie stammt. Und daran, dass in den USA viel Mais mit seinen typischen Kohlenstoff-Isotopenverhältnissen gegessen wird. Oder Steak von Kühen, die diesen Mais fressen.“

Das Knifflige an Horns Spurensuche ist, dass Physik, Chemie, Biologie und Geologie zusammenfließen. Er und seine Kollegen müssen das Isotopenverhältnis der Proben bestimmen, sie müssen wissen, wo auf der geologischen Weltkarte welches Muster zu finden ist, sie müssen beachten, wie schnell der Körper ein Element im Knochen oder im Haar archiviert. Ein Haar wächst etwa einen Zentimeter im Monat, und so findet Horn gut acht Zentimeter von der Wurzel entfernt Hinweise auf die Ernährung vor acht Monaten. Zum Glück hatte al-Masri lange Haare. Aber er hat sie nach seiner Freilassung gegelt. Das hat Horn bei der Wasserstoffanalyse zuerst durcheinander gebracht.

Elemente faszinieren Horn seit seiner Kindheit. Im Keller in Heilbronn hatte er ein Labor. Das Haus hielt, nur den Putz von der Kellerdecke musste er manchmal zusammenfegen. Nach dem Abi hat er Chemie, Geologie und Mineralogie studiert. 1969 flogen die ersten Menschen zum Mond, Horn hatte gerade beim Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik angefangen, die Nasa schickte kleine Pakete nach Deutschland. „Mondsteine und Mondstaub“, sagt Horn am Küchentisch, als sei das nichts Besonderes. „Apollo 11 bis 17.“

1975 ging es nicht weiter. Der Direktor war für Atomkraft, Horn war dagegen. Aber es gab auch Mondproben in Paris und Zürich, er machte dort weiter. Irgendwann mochte Horn keine Nasa-Steine mehr erforschen. „Wir können so raffinierte Sachen mit den Proben“, hat er gesagt. „Und wir ersticken hier auf der Erde im Dreck.“ Er untersuchte, wo der Dreck herkommt. Inzwischen in München, nahm er sich die Schadstoffe im Bayerischen Wald vor. Er sah sich das Blei im eigenen Blut an, ordnete es teils dem Grundwasser zu, teils dem bayerischen Bier, was die Brauer natürlich nicht so gern hatten. Er zerlegte Wein und Honig, Spargel und Butter.

Das klingt wie ein lustiges Hobby, aber bei Lebensmitteln ist es ein Millionending, zu wissen, wo sie wirklich herkommen. Wer zahlt schon gern für italienischen Käse, wenn er in Wahrheit aus der Nähe von Tschernobyl stammt? Zusammen mit Zollfahndern hat Horn Schwindlern nachgewiesen, dass estnische Butter ursprünglich ganz woanders herkam und Zollvorteile zu Unrecht kassiert wurden. Das hat ein Kommissar in München mitbekommen und gesagt: „Herr Professor Horn, was man mit Butter machen kann, muss man doch auch auf Mordopfer anwenden können.“ Sie haben es getestet. 2001 hat er einen namenlosen Toten untersucht, den Arbeiter an der Isar gefunden hatten.

Horn kruschtelt etwas, bis er im Arbeitszimmer das Gutachten findet, es liegt unten in einem Karton, und es sind einige Fälle dazugekommen. „Leiche Köln“ steht auf einem Papier, „Torso Chemnitz“ auf einem anderen. Über den Toten von der Isar konnte Horn sagen, dass er lang in der DDR gelebt hat, wahrscheinlich im Erzgebirge. Der Tod wurde nicht aufgeklärt, aber die Polizei war beeindruckt.

Jeder Leiche ihren Namen

Er hat weitergemacht. „Das habe ich von einem Polizisten gelernt: Dass man den Toten ihren Namen zurückgeben muss.“

Einmal wurde ein Mord aufgeklärt. Ein Toter, der an einer Autobahn gefunden wurde, hatte Blei in den Knochen, das Horn Jugoslawien oder Ungarn zuordnete. Die Polizei fand eine rumänische Familie, die ihren Vater vermisste, als Mörder wurden seine Autoschieberkollegen gefasst.

Horn ist wichtig, dass er nur Hinweise geben kann. „So gut wie Fingerabdrücke sind wir nie, so gut wie DNA auch nie. Aber wir können der Polizei sagen, wo sie suchen sollte.“

Wenn jemand eine neue Methode in die Kriminalistik einführt, spricht sich das rum. Vielleicht wundern sich die Ermittler manchmal über den Briefkopf über den Gutachten, weil dort immer drei kleine Nashörner gedruckt sind, praktisch drei Namensvettern von Horn. Aber die Polizisten schätzen die Anhaltspunkte, und die Staatsanwälte genehmigen die Kosten.

Das Honorar fürs Al-Masri-Gutachten, etwa 13.000 Euro, musste Horn dennoch über einen Anwalt eintreiben. Ein Beamter bei der Justizkasse blockte ab. „So eine Missachtung von Leuten, mit denen sie sich in den Medien schmücken. Ach du Hightech-Land Bayern mit deinen Excellence Centers!“ Er lacht. Er rächt sich ein wenig über die Zeitung.

Er ist nicht angewiesen auf die Münchner Justiz. Er arbeitet mit Spurensuchern aus Skandinavien und den USA. Demnächst kommt eine Besuchergruppe von Staatsanwälten vorbei.

Ein uralter Kokskopf

Horn könnte sich im Erfolg sonnen. Stattdessen sieht er ein wenig genervt aus. Gerade hat ein britischer Sender angerufen. Er will nicht ins Fernsehen.

Es passt auch nicht zu ihm, als Musterknabe der Sicherheitsbehörden zu glänzen. Es passt zu ihm, sich über die Polizei aufzuregen. Zum Beispiel der Fall in den 80er-Jahren. Ein Marokkaner aus der Nachbarschaft musste mit auf die Wache. Hinterher hatte er gebrochene Arme. „Sie verstehen?“, sagt Horn. Er hat dem Marokkaner den Anwalt bezahlt.

Oder 2004, als Besoffene nachts im Haus Sturm klingelten. Horn hat Blumenwasser runtergekippt, und der Begossene kam gleich hochgelaufen, um sich zu bedanken. Nur dass er sich im Stock geirrt hat und auf den armen Herrn Mitgutsch losgegangen ist. Da ist Horn eine Etage höher und hat den Mann ein Stockwerk tiefer befördert. Der Klingler hat Horn und Mitgutsch angezeigt, er war Polizist und kannte sich da aus. „Sie verstehen?“

Auf die Vertrauenswürdigkeit des Staates würde er also nicht wetten, und so einer gibt dem Staat ungern ein Mittel an die Hand, mit dem dieser – mal übertrieben – aus einem Haarbüschel Speisekarte und Reiseroute der letzten Monate herauslesen kann. Es gibt einen Polizeichef, der sich für die Isotopenanalytik begeistert, so sehr, dass Horn die Mundwinkel auseinander zieht, wenn er über ihn spricht: „Der will am liebsten die Asylbewerber unter die Lupe nehmen.“

Mit der Isotopenanalyse könnte die Ausländerbehörde Hinweise darauf bekommen, ob ein Flüchtling sein Herkunftsland falsch angegeben hat. Togo: gute Asylchancen. Nicht Togo, sondern Nigeria: Abschiebung.

„Da mache ich nicht mit“, ruft Horn. „Wir arbeiten über Mord und Totschlag, aber nicht über Flüchtlinge. Die Methode ist viel zu schlecht, als dass irgendwer die Verantwortung übernehmen könnte, von moralischen Gesichtspunkten ganz zu schweigen.“

Später sagt Horn, dass man ein Jahrzehnt Erfahrung braucht, um mit einer Isotopenanalyse die Herkunft eines Menschen zu bestimmen und dass er selber dauernd dazulernen muss. Zu seinen Studienobjekten gehören zum Beispiel peruanische Mumien. Was haben sie gegessen? Wie haben sie gelebt? Er geht ins Arbeitszimmer und zieht aus einer Tüte ein dunkles Haarbündel. „Da lebte jemand vor zweieinhalbtausend Jahren, und ich hab seine Haare in der Hand.“

Peter Horn schaut auf die Haare. „Er hat viel Meeresfrüchte gegessen und ab und zu gekokst.“ Es klingt, als habe er gerade einen alten Kumpel aus Peru vorgestellt.